VOLKER KOEPP
WITTSTOCK
ZYKLUS
1975–1997
Als Volker Koepp 1974 erstmals in der märkischen Kleinstadt Wittstock an der Dosse dreht, findet er eine Aufbruchsituation vor: Der VEB Obertrikotagenbetrieb »Ernst Lück« wird vor den Toren der Stadt aufgebaut, 1.000 Arbeiterinnen sind hier schon tätig, 3.000 sollen es werden. Der erste Film MÄDCHEN IN WITTSTOCK etabliert drei von ihnen als Protagonistinnen, die Koepp 22 Jahre lang filmisch begleiten wird, von den ersten Berufsjahren in der DDR bis in die Umbruchzeit der 90er Jahre. Der entstandene Filmzyklus ist ein eindrucksvolles Dokument und zugleich eine berührende Erzählung vom Erwachsenwerden – »eine existentielle Trauer über das Vergehen der Zeit, das Altern, das Verblassen von Träumen, den Verlust von Protestenergie« (Stefan Reinecke).
Außerdem von Volker Koepp online verfügbar:
Mädchen in Wittstock
DDR 1975, 35 mm, s/w, 18 Min.
Regie: Volker Koepp. Buch: Volker Koepp, Wolfgang Geier. Kamera: Christian Lehmann. Schnitt: Barbara Masanetz-Mechelk. Ton: Eberhard Pfaff, Hans-Jürgen Mittag. Produktion: DEFA-Studio für Dokumentarfilme, AG document
MÄDCHEN IN WITTSTOCK bildete 1975 den Auftakt zu dem sich über zwei Jahrzehnte erstreckenden Wittstock-Zyklus, in dem Volker Koepp die Lebensläufe verschiedener Arbeiterinnen im VEB Obertrikotagenwerk »Ernst Lück« in Wittstock an der Dosse festgehalten hat. Im ersten Teil fragte Koepp die jungen Frauen nach ihren Erfahrungen mit der Arbeit, interviewte sie zu ihren Erwartungen und Enttäuschungen. Verschmitzt und schüchtern, charmant und impulsiv gaben sie Auskunft über ihre Probleme und Wünsche, wobei der Ernst und die Krisenhaftigkeit der zukünftigen Entwicklungen sich bereits andeuten. Die Heldinnen der späteren Wittstock-Filme – Renate, Edith und Elsbeth (»Stupsi«) – sind hier zum ersten Mal zu sehen.
Wieder in Wittstock
DDR 1976, 35 mm, s/w, 22 Min.
Buch und Regie: Volker Koepp. Kamera: Christian Lehmann. Musik: Mario Peters. Schnitt: Rita Blach. Ton: Otto Koch, Hans-Jürgen Mittag. Sprecher: Volker Koepp. Produktion: DEFA-Studio für Kurzfilme, AG document
Ein Jahr, nachdem er mit den Dreharbeiten zu seinem Wittstock-Zyklus begonnen hatte, reiste Volker Koepp wieder nach Wittstock. Der Film beschäftigt sich mit den Arbeits- und Lebensproblemen der jungen Mädchen und Frauen in der Textilfabrik, mit ihren Forderungen, Wünschen und Hoffnungen wie auch mit dem, was sie erreicht haben und noch erreichen wollen. Der leichte Unmut, der sich bereits im ersten Teil angedeutet hatte, ist stärker geworden. Dennoch hoffen die jungen Arbeiterinnen auf baldige Veränderungen.
Wittstock III
DDR 1978, 35 mm, s/w, 32 Min.
Regie: Volker Koepp. Buch: Volker Koepp, Wolfgang Geier. Kamera: Christian Lehmann. Musik: Rainer Böhm. Schnitt: Barbara Masanetz-Mechelk. Ton: Henner Golz, Eberhard Pfaff, Hans-Jürgen Mittag. Sprecher: Volker Koepp. Produktion: DEFA-Studio für Dokumentarfilme, AG document
Im dritten Teil von Koepps Wittstock-Zyklus steht Edith Rupp im Mittelpunkt, die wieder als Bandleiterin eingesetzt ist. Den Film zeichnet vor allem seine im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Filmen weitaus dichtere Darstellung aus, die die zukünftige Zuspitzung ahnen lässt.
Leben und weben
DDR 1981, 35 mm, s/w, 28 Min.
Regie: Volker Koepp. Buch: Volker Koepp, Wolfgang Geier. Kamera: Christian Lehmann. Dramaturgie: Annerose Richter. Schnitt: Barbara Masanetz-Mechelk. Ton: Eberhard Pfaff, Hans-Jürgen Mittag. Sprecher: Volker Koepp. Produktion: DEFA-Studio für Dokumentarfilme, AG document
Der vierte Teil des Wittstock-Zyklus ist nicht nur Fortsetzung der filmischen Chronik über das Obertrikotagenwerk »Ernst Lück«, sondern auch eine erste Zusammenfassung vom Werden des Betriebs seit seinem fast zehnjährigen Bestehen. Im Mittelpunkt des Films steht erneut Edith Rupp. Sie ist mittlerweile Obermeisterin und hat sich verlobt, doch ist sie nach wie vor skeptisch, was die Zukunft bringen wird.
Leben in Wittstock
DDR 1984, 35 mm, s/w, 85 Min.
Regie: Volker Koepp. Buch: Volker Koepp, Wolfgang Geier, Annerose Richter. Kamera: Christian Lehmann. Dramaturgie: Annerose Richter. Musik: Rainer Böhm. Schnitt: Lutz Körner. Ton: Peter Dienst. Produktion: DEFA-Studio für Dokumentarfilme
Mit LEBEN IN WITTSTOCK legte Volker Koepp ein 85-minütiges Resümee der vorangegangenen Filme vor, das konzentriert und intensiv die offene wie auch die latente Unzufriedenheit der jungen Frauen einfängt, den Zuschauer ihre Wehmut spüren lässt und den Blick auf ihre weitgehende Desillusionierung freigibt. Ediths Schweigen, so hat es Elke Schieber treffend ausgedrückt, »kommt einem allmählich lauter vor als ihr Murren.« Gerade im Rückblick betrachtet hat Koepp mit diesem Film eine ebenso erhellende wie verstörende Bestandsaufnahme des DDR-Alltags hinterlassen.
Neues in Wittstock
BRD 1992, 35 mm, s/w, 94 Min.
Regie: Volker Koepp. Buch: Volker Koepp, Gerd Kroske. Kamera: Christian Lehmann. Schnitt: Angelika Arnold. Ton: Ronald Gohlke, Henner Golz. Produktion: DEFA-Studio für Dokumentarfilme
Dieser Wittstock-Film beginnt nach der Wende. Koepp zeichnet die Konsequenzen der Wiedervereinigung auf und beschreibt die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen in Ostdeutschland. Im Verlauf des Films werden die Veränderungen der Stadt und der Umgebung dokumentiert, der filmzeitliche Ablauf aber wird von den drei Frauen Edith, Elsbeth und Renate bestimmt, deren Werdegang das Team seit 1974 begleitet. Ein aufwändiger Dokumentarfilm, der am Mikrokosmos die Befindlichkeit in den Neuen Ländern beschreibt und dabei ebenso engagiert wie einfühlsam Einlassung und Stellungnahme verbindet.
Wittstock, Wittstock
BRD 1997, 35 mm, s/w, 110 Min.
Buch und Regie: Volker Koepp. Kamera: Christian Lehmann. Schnitt: Angelika Arnold. Produktion: Herbert Kruschke Filmproduktion
Mit WITTSTOCK, WITTSTOCK beendet Volker Koepp seine sich über mehr als 20 Jahre erstreckenden filmischen Beobachtungen vom Leben in der märkischen Kleinstadt Wittstock an der Dosse, und wie es sich in der neuen Bundesrepublik Deutschland wandelte. Noch einmal begegnet man den Textilarbeiterinnen des einstigen VEB Obertrikotagenbetriebes »Ernst Lück«, die zwar inzwischen Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung, nicht aber ihr Selbstwertgefühl und ihre Sicherheit verloren haben. Ein besinnlicher, anrührend poetischer Dokumentarfilm, der Lebensläufe in der Schwebe ohne jeden Anflug von Resignation einfängt.
Kurzbiografie Volker Koepp
In vierzig Jahren hat der Dokumentarfilmregisseur Volker Koepp über fünfzig Filme produziert. Er wird am 22. Juni 1944 in Stettin (heute Szczecin, Polen) geboren, absolviert seine Schulausbildung in Berlin, schließt sie 1962 in Dresden mit dem Abitur ab. Danach beginnt er eine Facharbeiterlehre als Maschinenschlosser in der Turbinenfabrik Dresden. Von 1963 bis 1965 studiert er an der Technischen Universität Dresden, entscheidet sich aber um und absolviert von 1966 bis 1969 ein Sonderstudium an der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Babelsberg. Während des Studiums kommt es zwischenzeitlich zu Schwierigkeiten mit der Hochschulleitung wegen seiner Freundschaft mit dem Schriftsteller Thomas Brasch. Koepp soll exmatrikuliert werden, schließt dann aber doch das Studium als Regisseur und Szenarist ab. Ab 1970 ist er fest als Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilme angestellt, als Mitglied der Gruppe »document«. Seit 1990 arbeitet er als selbstständiger Regisseur und Produzent. Volker Koepp lebt in Berlin.
»Koepp, der ausgebildete Maschinenschlosser, hat die letzten Jahrzehnte der vordigitalen Welt festgehalten – und damit auch die Klugheit jener Menschen, die durch ihrer Hände Arbeit mit den materiellen Bedingungen ihrer Existenz verbunden waren, bevor die digitale Trennung von Hand und Wirkung uns alle manipulierbarer gemacht hat.« Berliner Zeitung
Volker Koepp über seine Wittstock-Filme
Auszug aus einem Interview mit Ingrid Poss, erschienen in »Das Prinzip Neugier. DEFA-Dokumenterfilmer erzählen.«, Berlin 2012
Es sind ja nicht nur 10, sondern fast 25 Jahre, in denen ich nach Wittstock gereist bin. Es ist natürlich immer schwierig, die Spannung zu Menschen, mit denen man über so einen langen Zeitraum zusammen ist, überhaupt aufrechtzuerhalten und auch immer wieder einen Ansatz zu finden. Wenn Sie die erschwerten Bedingungen auf äußere Situationen beziehen, dann war es immer schwierig. Ich weiß noch, als wir den ersten Film fertig hatten, wollte man uns zum zweiten Film nicht mehr ins Werk lassen. Dann wurden vor Wieder in Wittstock alle eingeladen, auch, um über den Film zu sprechen. Letzten Endes konnte man einem »sozialistischen Massenmedium« nicht verbieten, in einem sozialistischen Großbetrieb zu drehen. Aber keiner der Wittstock-Filme lief jemals im DDR-Fernsehen.
Der erste lange Film Leben in Wittstock (1984) lief 1985 im Forum der Berlinale, und der DEFA-Außenhandel verkaufte ihn an das Bayerische Fernsehen. Da ist Horst Pehnert von der Hauptverwaltung Film im Ministerium für Kultur zu Heinz Adameck, dem Chef des DDR-Fernsehens, gegangen und hat gefragt, ob der Film, bevor er im Westen ausgestrahlt wird, nicht vorher im Ostfernsehen laufen kann – aber auch da führte kein Weg rein. Doch die DDR-Kinos hatten durch die Fernsehausstrahlungen im Westen plötzlich viel Publikum, mit jeder Ausstrahlung so viel wie während meiner gesamten Zeit in der DDR im Kino. Insofern waren es nicht nur erschwerte Bedingungen. Wobei uns später dann der eine kurzzeitige Chef in Wittstock, der den Betrieb von der Treuhand übernommen hatte, auch nicht mehr in den Betrieb gelassen hat. Es war also immer schwierig, aber es war auch immer schön. Ich hatte Leute, zu denen ich gern gefahren bin und die mir von ihrem Leben erzählten.
Dieser Ansatz hat sich in der darauffolgenden Zeit nicht wesentlich verändert. Das Interesse, das ich für Menschen in einer bestimmten Landschaft habe, über deren Leben ich anderen Menschen etwas erzählen möchte, das hat sich nicht geändert. Damals nahm alles seinen Anfang.
Stefan Reinecke
Bilder wie eine Flaschenpost
Annäherungen an die Wittstock-Filme von Volker Koepp
1974 fährt Volker Koepp zum ersten Mal nach Wittstock an der Dosse. Ein unspektakulärer Ort, DDR-Provinz. Das Textilwerk »Ernst Lück« wird aufgebaut, dreitausend junge Frauen aus der ländlichen Umgebung sollen hier arbeiten. Mädchen in Wittstock ist ein Kurz-Dokumentarfilm, Fragen und Kommentar spricht Koepp ein. Dies ist ein Relikt des Dokumentarfilmes als Volksbildung, als Genre mit pädagogischem Auftrag. Diese Art verliert sich in den späteren Wittstock-Filmen, in denen der Off-Kommentar rarer wird und Bilder und Montagen wichtiger werden.
Der Wittstock-Zyklus erzählt nicht nur die Geschichte dieser Kleinstadt und die Biographien von Edith, Elsbeth und Renate, die im Lauf von mehr als 20 Jahren zu den narrativen Schlüsselfiguren werden. Man kann an diesen Filmen auch den Prozess der ästhetischen Stilfindung von Volker Koepp ablesen, in dem das Didaktische abfällt und das Dokumentarische als Kunstform zu sich selbst kommt. Die Schilderung und Bebilderung sozialer Verhältnisse rückt aus dem Zentrum des Interesses an den Rand. Dafür wird der Blick schweifender, offener für das Zufällige, für Situationen, in den sich etwas enthüllt. Volker Koepp verwandelt sich von einem Autor, der die Wahrheit sucht, in einen, der Schönheit sucht.
MÄDCHEN IN WITTSTOCK ist ein Film in einer Art ästhetischem Schwebezustand. Man sieht bereits manche von jenen für Koepp typischen leichthändigen Szenen, in denen die Kamera mit den meist weiblichen Heldinnen eine Art erotisches Spiel beginnt. Wir sehen immer mal wieder Porträts von Arbeiterinnen oder Gruppen von Arbeiterinnen in der Werkshalle, die von der Kamera beobachtet werden, dies bemerken und nicht ohne Koketterie und jonglierende Selbstinszenierung zurückschauen. Es ist ein Spiel mit unserer Schaulust und der Lust der Protagonistinnen, angeschaut zu werden, den Blick zurückzugeben, mal eher schüchtern, mal eher offensiv. Man sieht in diesen Szenen bereits den späteren Dokumenarfilmer Koepp, der Augenblicke sammelt, der die Kamera wie kaum ein Zweiter als Medium einzusetzen versteht, um Kommunikation in Gang zu setzen. Dietmar Hochmuth hat diese Art »soziale Erotik« genannt.
Daneben allerdings gibt es 1974 noch Momente einer anderen, schwergängigeren Art des Dokumentarischen, die nicht das Flüchtige, Freie, Spontane will, sondern auf das Typische und Bedeutsame zielt. So ist das wesentliche Narrativ, die Wahl des Ortes Wittstock, durchaus metaphorisch zu verstehen: Wittstock ist ein Ort, der mehr als sich selbst meint. Er ist ein zukunftsfreudiges Symbol für den Aufbruch der DDR in die industrielle Moderne und den Abschied von der agrarischen Provinz. Die jungen Arbeiterinnen, in den 1950er Jahren geboren, verkörpern die erste Generation, die nichts als die DDR kennt. Allerdings imprägniert Koepps präziser Blick gegen ideologische Überformungen. Es gibt Unzufriedenheiten, Unzulänglichkeit. Stupsi, die junge Arbeiterin in der Endkontrolle, sagt, dass es schön wäre, wenn die neue Produktionshalle, Symbol des Aufbruchs in einer bessere Zukunft, Fenster hätte. Das mag banal scheinen – aber 1974 war es alles andere als selbstverständlich, dass überhaupt Kritik öffentlich geäußert wurde.
Es gibt im Betrieb Probleme, die mehr als Anlaufschwierigkeiten sind: Die Produktivität ist niedrig, die Belegschaft wechselt oft. Und der Glaube, dass die sozialistische Dialektik von Plan, Kritik, Verbesserung, von Basis und Führung funktioniert, verfliegt bei den Protagonistinnen rasch. Edith, die FDJ-Sekretärin, sagt in dem Kurzdokumentarfilm Wieder in Wittstock (1976) resigniert: »Et jeet eben nich«. Ein Stoßseufzer, der wie ein Refrain immer wiederkehrt.
Koepps Blick verschiebt sich in den Wittstock-Filmen. Er wird intimer, immer mehr fokussiert auf Stupsi, Edith, Renate. Zum Gefühls-Kraftzentrum wird Stupsi, deren rebellischen Charme Koepp in szenischen Verdichtungen einfängt. Eine Alltagszene in Wittstock, ein kalter Tag, Stupsi lacht in einer einigermaßen verwegenen Jacke mit Leopardenfellmuster spöttisch Bürgern nach. Später sieht man sie mit einem Jungen, der Tisch voll mit Bierflaschen, Rockmusik dröhnt (überhaupt sind Rock- und Jazzrock-Soundtracks stilprägend für die Wittstock-Filme, bis zum Auftritt der Band »Pankow« 1984). Die Männer in Wittstock, sagt Stupsi, saufen zu viel und prügeln zu viel. In solchen Sequenzen sieht oder ahnt man etwas von der Auflehnung der Jugendlichen gegen die Kleinstadtmoral, gegen die klaustrophobische, fensterlose Moderne, die die DDR regierte. Ohne Worte.
1984 veröffentlicht Koepp LEBEN IN WITTSTOCK, den ersten langen Dokumentarfilm, der zehn Jahre im Leben der drei Heldinnen spiegelt. Dem Film ist eine schillernde Szene von 1974 vorangestellt. Sie zeigt Stupsi, die Koepps Kameramänner wie einen Star in Szene zu setzen wissen, in der Werkshalle. Sie erzählt, wie nebenher bei der Arbeit und mit jener eleganten Selbstverständlichkeit, die nur kommunikativ begabten Regisseuren gelingt, wie ein Kinofilm sein soll, dass er von einem Liebespaar erzählen soll, das sich trifft, verliert, wieder trifft. Dann verliebt sich die Frau in einen anderen und gründet eine Familie. »Und ooch von der Arbeit sollen se wat zeigen.«
Diese Sätze sind ein Kommentar, zum Leben, zum Kino und zum Wittstock-Film selbst. Stupsi ist ja selbst so etwas wie der Star in diesem Film, ein Star, der tagträumt, dass das Kino wie das Leben sein soll (eine Vision, aus der die kulturpolitischen Ideen der DDR sprechen), und aber auch, dass das eigene Leben Kino werden soll.
In LEBEN IN WITTSTOCK kommt das Besondere des chronikhaften Ansatzes erstmals deutlich zum Vorschein. Stupsi, die jetzt Elsbeth heißt, hat einen LKW-Fahrer geheiratet und zwei Kinder bekommen. »Am besten gar keene Männer«, hatte sie als Teenager mal gesagt, und am besten keinen aus Wittstock. Es ist anders gekommen. Renate und Edith sind Obermeisterinnen geworden. Die Bilder aus den 1980er Jahren haben eine andere Temperatur. Die Stimmung der frühen Jahre, das Rebellische, Kokette in der Gestik der Protagonistinnen, ist verflogen. Sie sind gesetzter, ruhiger, langweiliger. Wir sehen Elsbeth, die in dem Werk Pullover zusammenfaltet. Im Hintergrund ein Fenster. »Das hattest Du Dir gewünscht« sagt Koepp. Aber Elsbeth entzieht sich dem Spiel, sie weigert sich, die gleichen Gesten zu vollführen wie 1974, als sie gekonnt auf das Spiel mit Blicken mit der Kamera/dem Regisseur einging.
Das Werk scheint besser zu funktionieren, die Fluktuation hat nachgelassen, die Direktoren wechseln nicht mehr so rasant. Es scheint bergauf zu gehen. Doch dieses Narrativ, die erfolgreiche Verwandlung einer Kleinstadt in DDR-Moderne mit Plattenbauten vor der Stadtmauer, hat Risse. »Man sagt nicht die Wahrheit, bis in die Leitung hinein«, so eine Arbeiterin. »Das hat sich so eingebürgert.« Dies mag man als Anspielung auf die Planökonomie der DDR lesen, bei der, bis zum Zusammenbruch, wirtschaftliche Erfolge auf dem Papier standen. Leben in Wittstock ist auch ein Versuch, solche Botschaften in die strikt zensierte DDR-Öffentlichkeit zu schmuggeln, die eine keimfreie Scheinwirklichkeit vorspiegelte. Diese Öffentlichkeit war das Pendant zu den DDR-Wirtschaftsplänen, in denen es nur Produktionsrekorde gab. Weil Journalismus und unabhängige Öffentlichkeit nicht existierten, versuchten Künstler, Theatermacher, Schriftsteller und auch Dokumentaristen, Realitätspartikel in die gegen Unliebsames hermetisch abgedichtete DDR-Öffentlichkeit zu schmuggeln. Doch das Besondere, Eigentümliche der Wittstock-Filme ist nicht, dass sie eine besonders raffinierte Flaschenpost waren, um die Zensur zu unterlaufen. Das hat Koepp 1988 am ehesten mit Märkische Ziegel getan, einer für DDR-Verhältnisse drastisch realistischen Beschreibung einer verfallenden volkseigenen Ziegelei, mit kaputtem Putz, resignierten Arbeitern und antiquierten Produktionsabläufen.
Der Wittstock-Zyklus ist im direkten Sinn nicht politisch. Der Blick gilt dem Alltäglichen, den Abläufen des Lebens, den Biographien der drei Figuren. Am Ende von LEBEN IN WITTSTOCK sieht man in einer langen Szene Elsbeth in ihrem Wohnzimmer. Draußen ein Wald, das Haus gehört zu den neuen Plattenbaukomplexen, Symbol der DDR-Moderne. Koepp fragt nach Wünschen. Doch die Verzauberung funktioniert nicht mehr. Der Star weicht aus. Nein, keine Träume mehr. Mal aus Wittstock herauskommen? Ja, in den Ferien, damit die Kinder mal etwas anderes sehen. Es ist alles gut, es ist alles so geworden, wie sie es wollte, sagt Elsbeth. Aber etwas stimmt nicht. Sie wirkt ungeduldig, wie jemand, der nicht mehr erinnert werden will. Es soll, sagt sie, »alles bleiben, wie es ist«. Dann schaut ihr die Kamera noch lange zu. Schweigend.
Eine unbestimmte Melancholie liegt über allem. Weil die Figuren angekommen sind und schrecklich nur die Wünsche sind, die in Erfüllung gehen? Rührt diese Tristesse aus dem Verfliegen des spielerisch Pubertären, Aufsässigen, Erotischen, des schieren Vergehens der Zeit? Es bleibt offen. Alles ist gut, alles wird so bleiben, wie es ist. Nichts wird mehr passieren. Die Zukunft ist nichts als die wunschlose Verlängerung des Jetzt. Die Zeit scheint eingefroren. Und gleichzeitig ist dies eine Abschiedsszene. Sie hat etwas von einer melodramatischen Miniatur: Etwas ist vorbei. Und nun?
Ohne Mauerfall und Wende wäre der Wittstock-Zyklus wohl 1984 zu Ende gewesen. Aber die Weltgeschichte taute auch die eingefrorene Zeit in der DDR-Provinz auf. NEUES IN WITTSTOCK (1991) besichtigt die Post-Wende Szenerie, mit allen Zwiespältigkeiten. Das Obertrikotagenwerk »Ernst Lück« ist verkauft worden. Drehen darf Koepp in dem privatisierten Werk »Freizeitmoden GmbH« nicht. Auch im Kapitalismus hat die Öffentlichkeit Grenzen. Edith, die Ex-FDJ-Sekretärin, wird als eine der ersten entlassen. Sie steht vor dem Werk, es war ihr letzter Tag nach 20 Jahren. »Ist ne lange Zeit« sagt sie. Und schweigt. Und schaut. Und schweigt. Es ist eine der typischen szenischen Miniaturen, in denen das Ungesagte das Sprechende ist. Solche Szenen verraten zum einen eine Vertrautheit zwischen Dokumentarist und Portraitiertem, ohne die eine Langzeitbeobachtung über fast ein Vierteljahrhundert nicht möglich ist. Aber auch eine Spannung. Die Rat- und Sprachlosigkeit, unsichere Blicke, und die Furcht vor dem, was kommt, Selbstbehauptungswille – das wirkt wie eine theatralische Verdichtung, wie eine Szene von Ödon von Horvath.
Am Ende sagt Edith, die immer so robust wirkt: »Lass die Kamera mal aus«. Dann wird die Leinwand schwarz. Man sieht, was man nicht sieht. In dieser Ellipse wird die Spannung von Gesagtem/Ungesagtem bildlich.
NEUES IN WITTSTOCK registriert die Verluste, zeigt einen arroganten Westdeutschen, der sich, über ein Modell der Stadt gebeugt, Wittstock wie der neue Herr zu eigen zu machen scheint. Der Karl-Marx-Platz heißt Luisenplatz, arbeitslose Alkoholiker sehnen sich schon nach der Zeit, »als Erich noch war« zurück. Politischer Bekenntnisdrang regiert, Koepp macht sich nichts zu eigen. »Autorenhaltung und Standpunkt, das muss im Material stecken. Das kann nicht hinterher draufgesetzt werden. Wenn man das nicht im Material hat und einen Kommentar benötigt, dann hat man, glaube ich, seine Arbeit nicht richtig gemacht«. Das hat Koepp 1980 gesagt. Dies skizziert eine wetterfeste Ethik des Bildes, die unter Zensurbedingung ebenso gilt wie in einer offenen Marktwirtschaft. Das Bild spricht, es offenbart das Wesentliche – und sei es durch Aussparung. Nebenher schützt diese Ethik gegen thesenhafte Überwölbungen, meinungstaugliche Zurichtung der Bilder.
Was Westdeutsche aber trotzdem in den Wittstock-Filmen Anfang der 90er Jahre sehen konnten, war: Die DDR-Narrative der Nachwende-Zeit waren verkürzt, schief. Die verbitterte Ostalgie der abgewickelten DDR-Elite sowieso, mehr noch der von westdeutschen Medien und einigen Bürgerrechtlern betriebene Versuch, die DDR retrospektiv zu einem großen Stasiknast zu modellieren. Der präzise Blick für das Alltägliche in der Provinz zeigte, wie schablonenhaft, ungenau solche interessengestützten Großraumthesen waren.
Edith, die 1984 sagte, dass sie nun ewig in Wittstock bleiben würde, geht 1991 nach Westen. »Ist schon in Ordnung so«, sagt sie, wieder in einer langen, von Sprechpausen durchzogenen Szene. Das Werk wird abgewickelt. Für den Job als Verkäuferin in einer Boutique bewerben sich mehr als hundert. Und am Rande des Blickfelds der Kamera sieht man die überflüssigen Jungmänner, kurzgeschoren, die an einer Bushaltestelle herumlungern. Die verlorenen Kinder der Revolution. Koepp, der vielleicht wie kaum ein zweiter Dokumentarfilmer Frauen ins Zentrum rückt, kommt mit ihnen nicht ins Gespräch. Sie sind wie ein böses Zeichen. Das Böse aber hat keinen Ort in Koepps dokumentarischem Kosmos.
Kern- und Ausgangspunkt seiner Filme ist eine grundsätzliche Empathie, Sinn für die Kraft der unmittelbaren Begegnung, Vertrauen ins Menschliche. Es ist ihm unmöglich, Filme gegen etwas zu machen. Das ist, vor allem in den Uckermark-Filmen in den 1990er Jahren, eine Grenze dieses dokumentarischen Blicks.
1997 entsteht der letzte Film des Zyklus’. WITTSTOCK, WITTSTOCK. Das erste Bild zeigt Elsbeth, Renate, Edith. Sie posieren ein wenig verschämt vor der alten Burgmauer. Wittstock, Wittstock, sagt Renate, als wäre es eine Zauberformel. Der Film hat etwas von einem Album: Chronologisch wird das Leben der drei nochmal erzählt, mit Szenen aus den Jahren 1974, 1976 (WIEDER IN WITTSTOCK), 1978 (WITTSTOCK III), 1981 (LEBEN UND WEBEN), 1984 (LEBEN IN WITTSTOCK). Renate macht für ein paar Mark Betten im ortsansässigen Hotel, Elsbeth räumt zwei Stunden am Tag im Supermarkt Tiefkühlregale ein. Wittstock als Industriestandort ist Geschichte. Und die Hoffnung auf neue Investoren ist nur das: eine Hoffnung. Es bleiben das Arbeitsamt und ein paar schlecht bezahlte Jobs. Und für die Frauen die bittere Situation, von ihren Männern finanziell abhängig zu werden.
In WITTSTOCK, WITTSTOCK entfaltet sich noch einmal das ganze Panorama. WITTSTOCK, WITTSTOCK ist die Apotheose dieses Zyklus’ und zugleich seine Auflösung. Nicht nur, weil die Einheit von Zeit und Ort zerfällt, weil Edith in Heilbronn tief im Westen wohnt. »Authentizität ist auch nur eine Erfindung und gar nicht einmal eine so gute«, schreibt der Filmpublizist Georg Seeßlen. In WITTSTOCK, WITTSTOCK löst die mediale Selbstreferenz den Eindruck des Authentischen, Unmittelbaren, Naturalistischen auf.
Auch die frühen Filme wie LEBEN UND WEBEN waren stets Kompositionen, Artefakte, stilisiert in schwarz-weißen Bildsequenzen, die an Fotografien erinnerten, mit Kammermusik unterlegt. Doch so deutlich wie in WITTSTOCK, WITTSTOCK war das Inszenierte nie. Elsbeth räumt Torten in die Tiefkühltruhe, hält eine davon in die Kamera und sagt wie zu sich selbst: »Wie früher mit dem Pullover«. Sie zitiert eine Geste, die sie als 16-jährige in Mädchen in Wittstock zeigte, als sie einen Pullover für die Kamera präsentierte und mit einem ebenso hinreißenden wie ironischen Lächeln sagte: »Einwandfrei«. Die Dokumentierte zitiert sich selbst, sie kommentiert diese Geste für das Publikum. Sie agiert wie eine Schauspielerin, die eine frühere Rolle zitiert. Wir befinden uns im Reich der Zitate, der Zeichen, der Selbstreferenz.
2049 findet in Berlin ein Symposium von Zeit- und Kulturwissenschaftlern statt. Man will die DDR, die vor 100 Jahren gegründet wurde, erforschen. Alle Leidenschaften, die die DDR entfesselt hatte, die erbitterten Rettungsversuche des sozialistischen Experimentes, der heiße Hass auf das diktatorische Regime, sind längst Geschichte geworden, Gesinnungsschlachten, an die sich nur noch ein paar Alte undeutlich erinnern. Man schaut kühl auf diese ferne, untergegangene Episode deutscher Geschichte, so wie man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Zeit vor 1914 blickte; Geschichte im Plusquamperfekt. Man sieht sich, zwecks Illustrierung des Alltagslebens in der DDR, auch einen Film an, WITTSTOCK, WITTSTOCK, mehr als 50 Jahre alt. In Schwarz-Weiß. 2049 ist man 3D-TV gewohnt, eine visuelle Unmittelbarkeit stets an der Grenze zur Überreizung. Die Kulturwissenschaftler schauen geduldig auf diese unfassbar langsamen Bildersequenzen, so, wie man im späten 20. Jahrhundert auf expressionistische Stummfilme geschaut hat: wie auf Bilder im Plusquamperfekt. Aber manche bemerken, dass sich, verborgen in dieser ältlichen, anstrengenden, unzugänglichen Bildersprache, etwas Seltenes befindet. Bilder einer Gier nach Leben, Bilder einer engen, grauen Welt, in der es doch ungemein viele Facetten gibt. Bilder, die so nur entstehen konnten, weil sich die Bilderproduzenten und die Porträtierten auf eine merkwürdige, aber stets spürbare Art und Weise vertraut waren. Bilder wie eine Flaschenpost.
»Volker Koepp zeigt in all diesen Filmen nur, was ist. Er bewertet nicht. Das überlässt er den Zuschauern. Das ist hart – auch und gerade, weil der Film-Zyklus am Ende auf einen Teil der Gründe dafür deutet, warum gerade auf dem Land im Brandenburgischen Verbitterung vielfach in Hass umgeschlagen ist, weshalb so viele wegziehen aus den kleinen Städten und Dörfern, wieso sich rechts-reaktionäres Gedankengut ausgerechnet hier so breit machen kann. Der Blick zurück auf die Jahre 1975 bis 1997 erzählt ganz viel über das Hier und Heute… Volker Koepp, der Lyriker unter den deutschen Dokumentarfilmkünstlern, beleuchtet das ›Durchhalten‹ immer wieder ganz nebenbei in klugen Bildern, mit Blicken auf das nur scheinbar Nebensächliche – etwa die schwarz-rot-goldene Deutschlandfahne, der man ansieht, dass das runde DDR-Emblem, das mal in der Mitte prangte, gerade eben abgetrennt worden ist; die Straßenschilder, die verkünden, dass die Karl-Marx-Straße nun St. Marienstraße heißt.« Rbb
Peter W. Jansen
Wittstock forever
Auszug aus »Ostwärts – Die Filme des Volker Koepp« von Peter W. Jansen.
Der Text ist erschienen in »apropos: Film 2004. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung«.
Ans Fortgehen denken sie lange nicht, die Mädchen, die Frauen von Wittstock an der Dosse. Elsbeth, die schon mit 18 für die Endkontrolle zuständig ist, träumt, als es für die Menschen in der DDR noch keine anderen Auslandsziele gibt, von einer Reise nach Bulgarien, aber zurückkommen will sie bestimmt. Und heiraten und eine glückliche Ehe führen. Elsbeth und Renate bleiben auch nach der Wende, ihrer Entlassung und dem Ende des Trikotagenwerks in Wittstock. Nur Edith, einst FDJ-Funktionärin und Parteimitglied und noch vor dem Ende der DDR aus der Partei ausgetreten und »auf die Straße gegangen« bei den Demonstrationen von 1989, Edith geht mit ihrem Mann »nach Süddeutschland«, in die Nähe von Heilbronn, wo beide Arbeit finden, die mit ihrer Ausbildung, ihrer Vergangenheit und ihrer Herkunft nichts zu tun hat.
25 Jahre lang ist Volker Koepp nach Wittstock gefahren, um, beginnend mit dem 18-Minuten-Film MÄDCHEN IN WITTSTOCK, fünf Filme zu drehen, und zwischendurch immer wieder einfach nur so, zu Besuch. Denn Wittstock gehört zu seiner Biographie, wie Wittstock zur deutschen Geschichte gehört. »Das finden wir schnell heraus«, sagt er zu Beginn von LEBEN IN WITTSTOCK, die historische Ansage der Wittstock-Filme genauso variierend, wie er auf viele Szenen früherer Filme zurückkommt, »hinter dieser Stadtmauer lebten Ackerbürger, Tagelöhner, Handwerker, Tuchmacher und Schankwirte. Das Land hieß Preußen, die Stadt ist Wittstock. Märkische Kleinstadt also, Kirchen- und Klosterbau, Schweden und Pest. Feuersbrünste mit Hinrichtung der Brandstifter, dann Benutzung der Klostermauern zu Schul-, Kasernen- und Gefängniszwecken. Das Wort von der märkischen Streusandbüchse. Der Reichtum der Sand, nichts weiter. Und das 20. Jahrhundert kommt hier langsamer an als anderswo in Deutschland.«
Die Biographien der Frauen, eng verbunden mit der Lebensgeschichte des Oberbekleidungswerks, stehen gleichermaßen – und deutlicher als die »Märkische Trilogie«, die weniger Vorlauf bis zum Geschichtsbruch hatte – für die Geschichte der DDR, für Aufbruch und Glaube, Hoffnung und kritische Beteiligung, Niedergang und Zusammenbruch, wie sie auch die Ingredienzien des Spielfilms sein könnten, den die junge Elsbeth sich ausmalt: »Also einen Spielfilm stell ich mir so vor. Da lernen sich zwei kennen und nach einer gewissen Zeit da gibt es den ersten Krach, na ja, und dann sind sie beide zu stolz dazu, dass einer zum anderen hingeht, zur Versöhnung, das traut sich keiner. Und dann müssen Sie auch was von der Arbeit bringen, was sie macht, und was er macht, na ja, und dann lernt sie eines Abends mal einen Mann kennen, also einen jungen Mann, und dann merkt sie doch nach einer gewissen Zeit, dass sie ihn doch nicht so gern hat wie den ersten, mit dem sie zusammen war, und sie muss ihm erst mal erklären, wie das ist, und dann kommen sie ja doch zusammen. Aber dann dürfen Sie den Film nicht gleich abdrehen. Dann müssen Sie weiter zeigen, wie sie weiterleben und wie die Familie wächst und was für Probleme da sind … Nun weiß ich nicht weiter.«
Hinterm Horizont mag es weitergehen, aber nach dem Happy End? Nach dem Happy End sollte man weiter drehen, träumen Elsbeth und Koepp, aber wenn es ein Happy End nicht gibt? Es liegt in der Logik der Wittstock-Sinfonie in fünf Sätzen, dass Elsbeths Spielfilmentwurf zitiert wird, in NEUES IN WITTSTOCK und am Ende des bisher letzten Films dieser Gruppe, WITTSTOCK, WITTSTOCK. Denn die Dramaturgie des Ensembles dieser Dokumentarfilme ist in der Tat die eines Spielfilms in fünf Akten, beginnend mit der Exposition (Einführung von Personen, Ort und Handlung), mit den Höhepunkten von Zuversicht und Enttäuschung, der Peripetie der Auflösung und der Katastrophe. Selten ist ein Film, der die Wirklichkeit an ihrem Ort und zu ihrer Zeit aufsucht, so nahe an der Fiktion des Wirklichen gewesen, einer Fiktion zudem, die auf den Namen der wirklich existierenden DDR hörte, des Staates, der Partei, der Gesellschaft und ihrer Utopie.
So oft die Kamera die Halle des Werks abfährt, an der Frontseite in Fahrten von links nach rechts vor allem, oder an den Bändern entlang, und so oft Nahaufnahmen Maschinen zeigen und wie an ihnen gearbeitet wird, so wenig demonstriert die Schnittmontage, wie, in allen Einzelheiten, ein Produkt entsteht. Die Wittstock-Filme sind keine Industriefilme, sondern Filme über Menschen, sind Erforschungen der Bedingungen von Arbeit, Darstellungen gesellschaftlicher Konflikte, die sich aus Arbeit und Arbeitsverhältnissen, aus arbeitsbedingten, aber auch ideologisch vorstrukturierten Abhängigkeiten und Hierarchien ergeben. Insofern sind die Wittstock-Filme soziologischen Studien ähnlich – und Filme der Freundschaft und Freundlichkeit, unter den Frauen und der Frauen mit dem Filmemacher.
Impressum
Herausgeber: Ralf Schenk
Redaktion: Franziska Schuster
Satz und Gestaltung: Christin Albert
© DEFA-Stiftung. Lizenzgeber: ICESTORM Entertainment GmbH
© 1997 Kruschke Film- und Fernsehproduktion.
All rights reserved.