Ein Film von Ute Adamczewski
Ein Film von UTE ADAMCZEWSKI
ZUSTAND UND GELÄNDE
ZUSTAND
UND GELÄNDE
– Peter-Weiss-Preis 2022 –
Goldene Taube – Bester Dokumentarfilm
für Menschlichkeit, Solidarität und Fairness
Prix Premier
Ecumenical Jury Award
Sogenannte wilde Konzentrationslager, unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis ab März 1933 zur Ausschaltung politischer Gegner eingerichtet und heute weitgehend vergessen, sind Ausgangspunkt des Films.
Bilder von Straßen, Wohnhäusern, Schlössern und Burgen treffen auf aus dem Off verlesene bürokratische Briefwechsel, Tagebucheinträge, literarische Fragmente. Zu Beginn entstammen sie dem Jahr 1933, kreisen thematisch um Schutzhaft- und Konzentrationslager, politische Opposition, traumatische Erfahrungen. 1945, 1977, 1990, 2011 kommen weitere Überschreibungen der Orte hinzu und mit ihnen die Diskurse der jeweiligen Erinnerungskultur.
Drei aufeinanderfolgende Zeiträume der deutschen Geschichte verknüpfen sich zu einem losen Narrativ, in dem Gewalt zur Durchsetzung von Macht eine wesentliche Rolle spielt. Erzählt wird von Orten, die nicht nur Teil einer netzartigen, faschistischen Infrastruktur im Nationalsozialismus waren, sondern die – nach dem Krieg, dem Ende der DDR, in der gesamtdeutschen Gegenwart – umkämpfte Räume einer Deutungshoheit von Geschichte und Legitimation politischer Linien wurden. In jedem Bild potenzieren sich die Zeitpunkte und Zeiträume und beharren auf dem Jetzt.
UTE ADAMCZEWSKI arbeitet als Videokünstlerin und Filmemacherin in Berlin. Ihre Videoinstallationen wurden unter anderem auf der Architektur Biennale Venedig, der Shanghai Kunst Biennale und in der Pinakothek der Moderne München gezeigt. Ihre letzten Arbeiten NEUE ORDNUNG (2013) und LA VILLE RADIEUSE CHINOISE (2015) wurden von den KW-Institute for Contemporary Art in Berlin koproduziert. ZUSTAND UND GELÄNDE ist ihr erster Dokumentarfilm.
PETER WEISS PREIS 2022, Begründung:
ZUSTAND UND GELÄNDE „zeigt die Gebäude, in denen die ersten ‚wilden‘ Konzentrationslager ab 1933 entstanden und in die vor allem politische Gefangene eingesperrt wurden. Teilweise handelte es sich um Bauten, in denen zuvor Organisationen tätig waren, die von der national-sozialistischen Diktatur verboten wurden. Der Film zeigt die Gebäude und Plätze in einer reduktionistischen Bildästhetik, die eine intensive Spannung zu den mündlich vorgetragenen Briefen und Verordnungen aufbaut. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, ‚Zustand und Gelände‘ wird damit auch zu einer Warnung an die Gegenwart; der Film erinnert an Formen der Entmenschlichung, von denen auch demokratische Gesellschaften jederzeit bedroht sind.“Dietmar Dieckmann, Kulturdezernent und Vorsitzender der Jury, resümiert:
„Dieser Film baut mehrere Bedeutungsebenen übereinander auf und verknüpft sie miteinander. In dieser Form ist das einzigartig. Für mich ist das außergewöhnlich und zugleich beispielhafter Ausdruck eines aufrichtigen gesellschaftlichen Engagements.“ZUSTAND UND GELÄNDE Ein Film von Ute Adamczewski Farbe, 119 Min.
[Buch, Regie, Schnitt] UTE ADAMCZEWSKI [Kollaboration, Titel] ANDRÉ SIEGERS [Bild] STEFAN NEUBERGER [Sounddesign] LUDWIG BERGER [Dramaturgie] ANTJE STAMER [Sprecherin] KATHARINA MEVES [Regie Sprecherin] KATJA LEHMANN [Aufnahme Sprecherin] TITUS MADERLECHNER [Farbkorrektur] STEFAN NEUBERGER [Tonmischung] JOCHEN JEZUSSEK [Titelgrafik] SANS SERIF [Übersetzung] STEPHEN GRYNWASSER [Untertitel] STEFAN PETHKE [DCP] TILL BECKMANN
Ute Adamczweski über ihren Film
Ein Motiv für meinen Film sind die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland seit dem Mauerfall. Exemplarisch lassen sie sich am sächsischen Gedenkstättengesetz von 2004 bis 2015 nachvollziehen. Dessen Gleichsetzung von Nationalsozialismus und DDR führte zu dem Vorwurf, eine Relativierung des NS und damit eine Re-Nationalisierung des Gedenkens zu betreiben. Die frühen Lager, in denen der Widerstand zum NS niedergemacht wurde, sind mir in diesem Kontext begegnet. In den spärlichen Veröffentlichungen dazu gab es keine Fotos. Erst bei den Ortsbesichtigungen wurde mir bewusst, dass sich die meisten Lager inmitten von Ortschaften befanden. Es war offensichtlich, dass man die Orte und die Lager zusammendenken muss. Durch einen Zufall konnte ich während der Dreharbeiten im Stadtarchiv Frankenberg einen Stapel Dokumente einsehen. Ganz oben lag eine Warenbestellung für das Lager Sachsenburg. In dem Stapel befanden sich noch Bewerbungsschreiben, Verhaftungs- und Verhörprotokolle. In jedem einzelnen Dokument konnte man die Verstrickungen des Lagers mit seiner Umgebung und die Beteiligung unzähliger Personen erkennen. Aus den Dokumenten und weiteren Quellen habe ich einen Filmtext entwickelt. Während das Bild in der Gegenwart bleibt, bewegt sich der Text durch die Zeit und zeigt die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die zur Ausgrenzung bestimmter Gruppen und zur Eskalation von Gewalt geführt haben. Der Ausdehnung des NS in alle Lebensbereiche habe ich die vermeintliche Harmlosigkeit der Orte zur Seite gestellt. In den Filmbildern tauchen Mahnmale auf, die den Opfern des NS gewidmet waren. An deren Umwidmungen lassen sich die antagonistischen Positionen zur deutschen Geschichte ablesen.
„Im Jahre 1933 landeten die meisten verhafteten Oppositionellen nicht vor Gericht, denn sie wurden nicht für strafbare Handlungen interniert, sondern für das, was sie waren: mutmaßliche Feinde der neuen Ordnung. (…) Noch Jahre später brüstete sich Reichsführer-SS Himmler damit, dass die Nationalsozialisten die „jüdisch-kommunistische assoziale Organisation“ im Jahre 1933 vernichtet hätten, indem sie die Leute „völlig illegal“ von der Straße geholt hätten. Tatsächlich hatte man die meisten Verdächtigen in „Schutzhaft“ genommen, ein euphemistischer Begriff für unbegrenzte Inhaftierung, die sich lose auf die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat stützte und keinerlei richterlicher Kontrolle unterlag. Die Verordnung, von Hitlers Kabinett am 28. Februar 1933 als Antwort auf den Reichstagsbrand erlassen, setzte elementare bürgerliche Rechte außer Kraft.“
Nikolaus Wachsmann, DIE GESCHICHTE DER NATIONALSOZIALISTISCHEN KONZENTRATIONSLAGER
Essay
„Zeigt Orte, an denen der deutsche Faschismus begann.“
Die Zeit
„… dokumentiert den frühen Terror des NS in Sachsen. Während die Bildebene konsequent in der Gegenwart bleibt, wechseln die Dokumente, die von der Schauspielerin Katharina Meves vorgetragen werden, zwischen der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR. Die Dokumente aus der Zeit des NS sind vor allem Täterakten von Behörden und Justiz, die aus der Zeit der DDR vielfältiger. Aussagen von Opfern stehen neben Eingaben an DDR-Behörden, in denen das erinnerungspolitische Ringen der Jahre nach dem Krieg erkennbar wird.“
TAZ
Alejandro Bachmann
geschichtete Gegenwar t / gegenwär tige Geschichte
Zu Ute Adamczewskis ZUSTAND UND GELÄNDE
„Es ist anzunehmen, daß jeder Zeitraum ein neues Bild beisteuert und die so hergestellten sukzessiven Bilder Schicht um Schicht die immer größer werdende Leinwand bedecken.“
Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen
I.
Im letzten Drittel von ZUSTAND UND GELÄNDE gibt es einen Schwenk, der in kurzer Zeit eindrücklich (und ein wenig vielleicht auch augenzwinkernd, ein Moment des Humors innerhalb einer filmischen Tour de Force) auf den Punkt bringt, welche Denkbewegung der Film über 120 Minuten noch weitaus vielschichtiger und komplexer vollzieht: Der graue Himmel im Hintergrund wird zunehmend von der von oben ins Bild kommenden roten Fahne verdeckt, bis diese ihn völlig unsichtbar macht. Der Schwenk endet aber nicht an dieser Stelle, in seiner Fortführung enthüllt er ein weißes, gedrucktes Symbol auf dem im Wind flatternden Stoff, das sich schließlich als Logo der Sparkasse entpuppt. Das umliegende Gelände wird so gleich doppelt verdeckt — für kurze Zeit von der wehenden Flagge des Kommunismus, am Ende vom Symbol des Kapitals.
II.
Zustand – das beschreibt erst einmal etwas Fixiertes, ist die Beschreibung eines Jetzt, die aber immer auch eine Zeitlichkeit mitdenkt. So wie es jetzt ist, war es nicht immer und wird es nicht bleiben. Einen Zustand zu erklären, impliziert, eine immer weiter laufende Zeit gegen ihr Prinzip anzuhalten. Gelände – das beschreibt die Landschaft als etwas Vermessenes, das einem bestimmten Zweck (z. B. einer Kaserne, einem Lager) dienen könnte (aber nicht muss), das gemacht wird oder werden kann, verändert wurde und sicher wieder verändert werden wird. ZUSTAND UND GELÄNDE ist kein Film über einen Zustand oder das Gelände, sondern über die Bewegungen und Übergänge zwischen Zuständen und Geländen (genutzten, gebrauchten, gewidmeten Landschaften). So steckt erst einmal etwas ganz Basales, Filmisches in dieser Arbeit – ein Film, der Raum und Zeit in Bewegung versetzt.
III.
Diese Bewegung ist nicht eine der Bilder alleine, sondern vielmehr des Zusammenspiels aus Texten, Bildern, Perspektiven, die in der Montage Schichten (also „Geschichtetes“) zueinander bringt: Zu den Bildern Sachsens – irgendwelche, beliebig scheinende Straßen und Ortschaften ebenso wie Landmarks, Burgen, Schlösser – hören wir von einer Frauenstimme verlesene Dokumente, wobei jedes zu Beginn von der Nennung des Verfassers/der Verfasserin, sowie dem Datum des Verfassens gerahmt ist. Anfangs dominiert das Jahr 1933, thematisch geht es um die Etablierung der ersten Schutzhaft- und Konzentrationslager, der netzhaften Ausdehnung des Faschismus in alle Lebensbereiche, später dann (bis ca. 1937) um deren logistische Verwaltung. Erstmals reißt der Film nach ca. 30 Minuten aus diesem Konzept aus, nach und nach kommen neue Zeitschichten hinzu – 1945, 1977, 1990, 2011. Von den Fragen nach der Organisation der Lager oder der Unterdrückung bzw. dem Widerstand der politischen Opposition verschiebt sich der Schwerpunkt nun auf Fragen der Repräsentation dieser Ereignisse (z.B. der Definition der Zuschreibung „Opfer des Faschismus“), der Etablierung von Denkmälern, ihrer Umwidmung oder gar Neuplatzierung (um Platz für ein Einkaufszentrum zu machen, etwa). Die Ton-Bild Schere folgt dabei stur dem Prinzip, dass wir die Gegenwart des Ortes sehen, um dessen Nutzung und Deutung in diversen, historischen Schichten es im Ton geht. So erzählt ZUSTAND UND GELÄNDE nicht nur von Orten, die im Nationalsozialismus gleich zu Beginn Teil einer faschistischen Infrastruktur wurden, sondern die später – nach dem Krieg, nach dem Ende der DDR, in der gesamtdeutschen Gegenwart der NSU – umkämpfte Objekte einer Deutungshoheit von Geschichte und Legitimation politischer Linien wurden.
Diese Schichtungen in der Zeit, die sich im Verlaufe des Films zunehmend überlagern und schlussendlich ineinander zu verschwimmen scheinen, treffen auf Schichtungen vor Ort, die sich aus einer Vielzahl von Perspektiven ergibt: Die verlesenen Dokumente alternieren zwischen Ideologie, bürokratischer Idiotie, wirtschaftlichen Interessen und repressiven Strategien auf der einen und subjektiven Berichten traumatischer, Psyche und Körper malträtierender Erfahrungen auf der anderen Seite. Dabei beschränkt sich weder das eine noch das andere nur auf die Jahre‚ 33 – 45, beides ist Teil aller zeitlichen Ebenen. Das Sachliche und das Subjektive, die Verwaltung und der Körper greifen hinter den sichtbaren Orten ineinander, machen diese zu Vexierbildern, die zugleich aus mehreren Perspektiven verschiedene Geschichten in multiplen Schichten freilegen.
IV.
Dies aber führt nicht zu einer Relativierung von Geschichte (im Sinne eines stupiden „Das kann man so oder so sehen“), sondern vielmehr zu ihrer Beharrlichkeit (die auch die Beharrlichkeit der filmischen Form ist): Die Geschichte (ihre Strukturen, ihre Opfer, aber auch ihre Täter) insistieren in ZUSTAND UND GELÄNDE auf ihre Gegenwart, jenseits aller politischen, bürokratischen und materiellen Deutungs- und Umschreibungsversuche, die sie lebendig halten (sollen) und zugleich (notgedrungen, oft aber auch intendiert) domestizierten. Das Bild des Schichtens von Geschichte impliziert dies und widersetzt sich der Idee eines Zustandes als Festschreibung. Was sich über die Länge des Films aufbaut, wird manchmal punktuell spürbar: Hörbar in dem radikal minimalistischen Einsatz des nur selten und dann auch immer zurückhaltend verwendeten Synthesizer-Soundtracks, der seinen Ursprung stets in der Atmo der Bilder zu nehmen scheint, um mal zur pulsierenden Welle, mal zum drückenden Bohrer, mal zum geisterhaften Schweben und mal zum gallertartigen Schwappen zu werden. Sichtbar in den wenigen, präzis gesetzten, atmenden Handkameraaufnahmen, die in einem Film, der einen immer wieder auch verunsichert, in welcher Schicht man sich gerade befindet, einen Moment der Gegenwart und damit auch Dringlichkeit erzeugen: Tags, Schmierereien, auf die Schnelle, manchmal im Verborgenen irgendwo angebracht, setzen Marker: An den Oberflächen der Gegenwart und hinein in die Tiefen der Schichten von Vergangenheit.
„Der stärkste Film des Wettbewerbs, ausgezeichnet mit der Goldenen Taube!“
Berliner Zeitung
Interview
„Lange blickt die Kamera in ZUSTAND UND GELÄNDE auf das Gebäude, geduldig, fordernd, als taste sie es nach Spuren ab, als wolle sie das Haus in seine Einzelteile zerlegen. (…) Im Schauen klappen sich die Bilder auseinander, spalten sich immer mehr auf. Unaufhaltsam lassen sich in ihnen neue Dinge finden, an denen der Blick haften bleibt.“
critic.de
„Die Darstellung von Geschichte und ihre Bewertung wird zur Zeit der Landschaftsplanung überlassen:“
ALEJANDRO BACHMANN im Gespräch mit UTE ADAMCZEWSKI
Alejandro Bachmann: Beim Überlegen, wie ich ein Gespräch über ZUSTAND UND GELÄNDE beginnen könnte, fällt mir auf, dass es der Film selbst ist, der es schwer macht, einen Gesprächsanfang zu finden. ZUSTAND UND GELÄNDE scheint mir als Film gegen diese Idee anzugehen, dass es einen Zeitpunkt oder einen ganz bestimmten Ort gibt, von dem aus man beginnen könnte, über etwas nachzudenken. Aber natürlich muss man das, man muss anfangen und ZUSTAND UND GELÄNDE beginnt mit einer Fahrt, entlang eines Geländers, leicht bergab sich bewegend, eine Kleinstadt in Sachsen im Hintergrund, das Bild hat etwas diffuses, vernebeltes, unscharfes, am Ende der Fahrt biegt die Straße in die Bildtiefe ab …
Ute Adamczewski: Die Fahrt ist eine Art Aufblende, ohne im eigentlich Sinn eine zu sein. Jenseits des Geländers füllt sich das Bild mit Häusern, Dächern usw. Das Dörfliche als konkreter gesellschaftlicher Raum ist für den Film dann auch bestimmend. Fast alle Schauplätze, ausser einer Sequenz in Dresden, befinden sich auf dem Land. Die Fahrt deutet etwas an, was ich bei der Recherche erlebt habe. Die frühen Lager wurden ja nicht wie die späteren Sammellager zu Gedenkorten umgebaut, sondern nach ihrer Zeit als Lager wieder normal genutzt. In den historischen Publikationen fanden sich keine Angaben, wo die Orte waren, keine Fotos. Es war nicht klar, wie sie aussahen. Im Verhältnis zu den späteren Lagern waren sie nicht prominent beschrieben, das waren Zwei- oder Dreizeiler.
A. B.: Verstehe ich richtig: Teil des Machens des Films war nicht nur das Aufsuchen solcher Orte, die Teil dieser netzartigen Lagerstruktur waren, sondern in gewisser Weise auch das Finden? Wie muss ich mir diesen Arbeitsprozess vorstellen – nicht nur vor Ort, in Sachsen, sondern auch im Verhältnis zu den Archivrecherchen?
U. A.: Die Suche war von Ort zu Ort verschieden. Schlösser und Burgen waren problemlos, in anderen Fällen gab es Hinweise in Publikationen. In Annaberg zum Beispiel wusste ich, dass sich ein Ententeich in der Nähe des ehemaligen Lagers, das ein Schützenhaus war, befinden muss, aber ich hatte keine Ahnung, wie das Gebäude aussieht, schon gar nicht heute und dass es abgerissen wurde, wusste ich erst, als ich auf der Brache stand. Wenn ich gar nicht weiter kam, habe ich Ortschronisten oder Bürgermeister angerufen, die haben eigentlich immer geholfen, übrigens meistens mit der Aussage, „die Sporthalle, die sie suchen ist da und da, aber das war kein Lager.“ Es wurde grundsätzlich heruntergespielt, so in der Art, „stimmt, die SA hat die Sporthalle besetzt, aber das war nur für einen kurzen Zeitraum“. Lokal wusste man Bescheid, zumindest die älteren Leute. In der DDR haben diese Orte ja eine besondere Rolle gespielt. Die DDR hat aus dem Widerstand der Arbeiterbewegung, die in den frühen Lagern vom Nationalsozialismus niedergemacht wurde, ihre Legitimation als antifaschistischer Staat gezogen. Weil ich nicht in der DDR sondern der BRD aufgewachsen bin, kannte ich das nicht, antifaschistische Mahnmale gab es im Westen nicht. Erinnerungspolitisch war mir aber schon klar, was in Sachsen zu der Zeit los war, die hatten ein Gedenkstättengesetz, das NS und DDR gleichsetzt. Das wurde mittlerweile geändert, ich glaube 2015. Politisch ist es aber weiterhin umkämpft. Insgesamt – das muss man sich klarmachen – gibt es eine unglaubliche Anzahl von Tatorten im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus. In fast allen Ortschaften, die im Film vorkommen, so z. B. in Colditz, Hainichen, Flöha und Reichenbach gab es ab 1942 Zwangsarbeiterlager, das waren meistens Baracken in der Nähe von Fabriken. Es waren nicht dieselben Orte, aber es führte stellenweise zu Verwirrung, weil es eben auch Lager waren, und man vor Ort erst einmal klären musste, welches Lager gemeint ist. Die Zwangsarbeiterlager gab es erst ab 1942, es war auch eine ganz andere Gruppe von Gefangenen.
Die Archivrecherche hat erst später angefangen, als wir schon gedreht haben. Eine Mitarbeiterin vom Rathaus Frankenberg, die uns zu einem Drehort begleitet hat, meinte, ob wir nicht auch das Stadtarchiv besuchen wollen, da gäbe es noch was über die Lager. Die hatten einen Schuhkarton mit der Aufschrift KZ in dem sich ein paar Handschellen befanden und von Häftlingen angefertigte Spielzeuge – ein aus Holz geschnitzter Vogel und aus Knochen gebaute kleine Trommeln für Puppenhäuser – vermutlich für die Kinder der SS. Abgesehen von den Gegenständen gab es eine kleine Anzahl von Dokumenten, zuoberst Bestellungen von Matratzen für das Lager Sachsenburg, dann Initiativbewerbungen von Tischlern, Bäckern usw. Es waren Kopien aus dem Staatsarchiv Chemnitz und auf meine Nachfrage meinte die Archivarin, da wäre noch viel mehr.
A. B.: Da ist noch viel mehr – das ist für mich auch der Eindruck, der sich im Film einstellt. Es entsteht – das liegt an dem Verhältnis von Bild- und Ton wie auch an der unablässigen Montage, die immer weiter Bild an Bild, Ort an Ort reiht und erst über den Ton eine Zeitlichkeit bekommt – dieses ungute Gefühl, dass das schon 1933 ein System war, das sich überall eingenistet hatte, dessen Strategie von Anfang auf eine netzartige Ausbreitung in alle Lebensbereiche angelegt war. Vermutlich wird das HistorikerInnen nicht überraschen, für mich war das in dieser Deutlichkeit dann aber doch etwas Neues, oder zumindest ein Bild, das nicht besonders stark perpetuiert wird. Und das steht dann ja auch diesen sehr punktuellen Mahnmalen entgegen, die in der Gegenwart hier und da an all das erinnern sollen …
U. A.: Ja, es ist überraschend, weil man im Rahmen der medialen Verarbeitung des NS an bestimmte, weit verbreitete und sich wiederholende Bilder und Texte bzw. an gewisse Sichtweisen gewöhnt ist. Der mediale Mainstream ist auf die Machtelite und Hauptschauplätze des NS fokussiert, sie bestimmen maßgeblich das kollektive Gedächtnis. Diese Art der Betrachtung hat eine lange Tradition, Alexander Mitscherlich und Margarete Mitscherlich-Nielsen haben in ihrem Buch ausführlich beschrieben, wie entlastend diese Personalisierung für alle anderen ist, die Verantwortung wird ja nicht geteilt. Im Film wird die Ausbreitung des NS anhand von kleinteiligen aber offensichtlich umfassenden Strukturen sowohl im Bild als auch im Text erzählt. Es wird schnell klar, dass es vielfältige Gründe für die Verstrickung gab, es war nicht unbedingt Überzeugung in der Sache, sondern pragmatische Abwägungen, man wollte im Geschäft bleiben, sich Vorteile verschaffen, austeilen. Die frühen Lager wurden in der Presse noch ausgiebig thematisiert. Berichte aus Lokalzeitungen werden im Film dann auch zitiert. Die Verbreitung war gewollt. Die Leute sollten Angst haben, das hat auch funktioniert. Angefangen mit dem Verbot der KPD am 21. Februar, dann die Verbote des Reichsbanners, der Eisernen Front, der SAP und der Internationalen Arbeiterhilfe, bis zum Verbot der SPD am 23. Juni hat man die Leute kriminalisiert, die waren plötzlich in der Illegalität. Die SA hat gezielt nach Mitgliederlisten gefahndet und dann zumindest die Funktionäre der Parteien und Organisationen verhaftet und in die Lager gebracht. Zeitgleich fingen auch die Vereinsverbote an, so z. B. des Arbeiter Turn- und Sportbunds, des Arbeiterradvereins Solidarität, der Mietvereine usw. Es gibt ein schönes Dokument, in dem ein NS-Beamter dringend darum bittet, den Arbeiter-Gesangsverein in Thurm aufzulösen, da sich die Mitglieder der schon verbotenen Vereine jetzt dort versammeln und „der Verein bei seinem Fortbestehen als marxistische Brutstätte zu betrachten ist.“ Auch in der Ausmerzung der Vereinsstrukturen war der NS wirklich radikal. Nichts war zu gering, alles wurde beschlagnahmt, bis zur Tischglocke.
Was deine Frage nach den Mahnmalen angeht: nach 1945 gab es in der sowjetischen Besatzungszone ein starkes lokales Bewusstsein, man wollte die ehemaligen Kameraden und die Widerstandsbewegung würdigen. 1948 gab es u.a. einen Aufruf der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Pirna Material aus der illegalen Zeit zu sammeln, von Flugblattaktionen, Anbringen von Parolen, Sabotageakten, Zersetzung der Wehrmacht, Weiterführung der verbotenen Organisationen usw. sollte berichtet werden. Unterschrieben wurde der Aufruf mit: „Material ist genug vorhanden also frisch ans Werk!“. Aus diesen Konglomeraten stammen einige der Erinnerungsberichte, aus denen die SED später Publikationen gemacht hat. Bei den zugehörigen Mahnmalen zeigt sich vor allem die Gedenkkultur der Zeit. Sie wurden von Bildhauern gestaltet, die noch antifaschistisches Bewusstsein ausdrücken wollten, im Gegensatz zu den Edelstahltafeln, die heute in Verwendung sind.
A. B.: Gab es einen Moment, der die Arbeit an dem Film initiiert hat, der diese ja doch auch sehr aufwändige Vermessung des Geländes einerseits und die Archivarbeit andererseits plötzlich dringlich gemacht hat? Dass die NSU gegen Ende des Films Thema wird, etabliert ja eine Kontinuität von 1933 in die Gegenwart, in Österreich hat man vor kurzem auch die Schutzhaft wieder diskutiert – alles Dinge, in denen die Ereignisse und Politiken der Gegenwart ganz klar nochmal an die von Dir verhandelte Erinnerung der Vergangenheit aus verschiedenen Gegenwarten heraus anschließt. Und dann gibt es so etwas wie ein grundsätzlich anderes Bild vom Faschismus, von der Ausbreitung totalitärer Systeme, die Du gerade angesprochen hast …
U. A.: Mich haben zuerst nur die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen nach 1989 interessiert. Es gab Gedenkorte, also vormalige Tatorte, wie Lager, Gefängnisse oder ähnliches, die nach 1989 zweigeteilt wurden. Man hat entweder Zäune aufgebaut oder Hecken gepflanzt, um auf der einen Seite der NS-Opfer und auf der anderen Seite den Opfern aus der Zeit der Sowjetischen Besatzungszone zu gedenken. In Sachsenhausen ist es zum Beispiel so. An den Mahnmalen hat sich der politische Umbruch manifestiert. Mahnmale waren bis dahin für mich etwas Feststehendes, nichts Veränderliches.
An der Stelle wurde für mich die politischen Neulegitimierungen bzw. Delegitimierungen sichtbar. Es wurden neue Claims abgesteckt und alte Rechnungen beglichen. Das in dieser Hinsicht sprechendste Bild im Film ist das Mahnmal in Oeslnitz, auf dem zu lesen ist: Für die Opfer jeglicher Gewaltherrschaft 1933 – 1989. Da wurde 1990 von der frisch gegründeten und gewählten CDU-Ortsgruppe die Gleichsetzung von NS und DDR durchgesetzt. Wenn man sich mit Erinnerungspolitik beschäftigt, bekommt man auch schnell ein Bewusstsein dafür, was überhaupt erinnert wird und was nicht. Die frühen Lager waren erinnerungspolitisch schwach konnotiert. Mich hat die Gewöhnlichkeit dieser Orte interessiert, ihre Überschreibung mit verschiedenen Nutzungen durch die Zeit und auch, dass der Widerstand aus der Arbeiterbewegung kam. Im Westen wurden einem Stauffenberg & Co als Widerstand präsentiert, das ist bis heute so. Im Museum Deutscher Widerstand in Berlin gibt es einen einzigen Raum, der den antifaschistischen Widerstand zeigt, dahinter liegt eine ganze Raumfolge, die Stauffenberg gewidmet ist. Insgesamt waren aber nur 5 oder 6 Prozent des deutschen Widerstands bürgerlich-konservativ, inklusive des 20. Juli! Im Bendlerblock, in der Stauffenbergstraße wird der ganzen gymnasialen Oberstufe das Gehirn gewaschen.
Dass der Film von der Gegenwart ausgeht, war von Anfang an klar, zumindest im Bild. Der Text bewegt sich dann durch die Zeit. Man ist sich irgendwann nicht mehr sicher, ob sich die Strukturen, bzw. die Mechanismen, die zur Ausgrenzung bestimmter Gruppen und der Eskalation von Gewalt geführt haben, verändert haben. Die Vergangenheit ist im Film dazu da, diese Strukturen und Mechanismen zu zeigen. Die Gegenwartstexte, wie der über den NSU machen deutlich, dass es Leute gibt, die sich positiv auf diese Vergangenheit beziehen. Ich hoffe, man versteht daran, wie fragil diese Gegenwart ist. Man denkt immer das ist weit weg, aber die Decke der Zivilisation ist dünn.
A. B.: Und neben diesen bestehenden Mahnmalen und diesen Tatorten, die noch keine Orte des Erinnerns sind und aber vor Deinem Film vielleicht als Mögliche etabliert werden – das ist auch so ein Gedanke: Das könnte ein Ort kollektiver Erinnerung sein, ist es aber (aus welchen Gründen eigentlich?) nicht – gibt es noch diese kleinen, individuellen Markierungen, Tags, Verewigungen persönlicher oder politischer Natur. In diesen Momenten, wie auch einigen anderen, verändert sich auch die Kameraarbeit, weg vom statisch registrierenden hin zu atmend aufnehmenden, was irgendwie nochmal ein Gefühl oder eine Idee von Gegenwart hinzufügt …
U. A.: Die Dreharbeiten für den Film waren eigentlich eine Fortführung der Recherche, das ist auch bis zum Schluss so geblieben. Es gab keinen Drehplan in dem Sinn, dass wir wussten, was wir genau machen, es war nicht festgelegt. Durch die ehemaligen Lager gab es spezifische Orte, die wir weitläufig umkreist haben. Die Umgebung, die Landschaft, oder genauer gesagt, die Kulturlandschaft haben wir dabei immer als Teil der Lager oder des Lagerkomplexes verstanden, so wird es im Film ja auch dargestellt. Beim Drehen ging es uns dann auch weniger darum, zu dokumentieren, was an welchem Ort genau passiert ist. Diesen Hinweisen sind wir nicht besonders nachgegangen. Bei Orten die mit Gewalt aufgeladen sind, kann man schnell in so ein kleinteiliges Vermessen hineingeraten, wie etwa: welche Greuel haben in diesem konkreten Raum stattgefunden, in dieser Ecke, hinter dieser Wand … Unsere Arbeit beim Drehen hat eher auf einen Blick abgezielt, der diese vermeintliche Harmlosigkeit zeigt, die Normalität und wenn möglich, sollten die drei Zeitschichten, die im Film verwoben sind, NS, DDR und Gegenwart sichtbar werden. Die starke Wahrnehmung des Gebauten, des Materiellen ist offensichtlich im Film. Ich komme aus der Architektur und dem Städtebau und mich interessiert, was uns Orte über die geltende Ordnung sagen, wie sich Gesellschaft im Gebauten spiegelt. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn in Zwickau die mittelalterliche Stadtmauer prominent herausgestellt wird und gleichzeitig das ehemalige Gefängnis bzw. Lager kaum erkennbar als Mauervorsprung in der Landschaft nachgezeichnet wird? Zur Zeit ist es eben so, dass die Darstellung von Geschichte und damit auch deren Bewertung der Landschaftsplanung überlassen wird.
Die Arbeit mit dem Kameramann Stefan Neuberger war ein Vergnügen, weil es eine wirkliche Zusammenarbeit war und eine stetige Auseinandersetzung mit den verschiedenen räumlichen Situationen gab. Bei den statischen Aufnahmen haben wir grundsätzlich überlegt, was gehört für uns eigentlich dazu, was muss man zusammen denken und wenn möglich auch in einem Bild zusammenziehen, so dass alle es sehen. Die frühen Lager waren ja noch keine für diesen Zweck gebauten Barackenlager auf der grünen Wiese, wie beispielsweise Buchenwald oder Sachsenhausen. Es waren gewöhnliche Orte, die in unterschiedlichen Kontexten standen, Teil eines Dorfes, eines Wohngebiets, mitten in der Stadt, gelegentlich auch isoliert waren, wie die ehemalige Spinnerei-Fabrik. Stellenweise ging es wiederum darum, Orte auseinanderzuziehen, das haben wir mit den Schwenks versucht. Wir hatten ein irre schweres Stativ dabei und Stefan hat die Schwenks damit in einer Langsamkeit gemacht, dass einem der Atem stockt. Deine Beschreibung der Handkamera, die eine Idee von Gegenwart hinzufügt, finde ich sehr passend. Es gab eben das Bedürfnis nach einem viel unmittelbareren Blick. Der funktioniert wie eine Art Riss durch die Wirklichkeit und die von uns sonst so gebauten Bilder.
A. B.: Wenn Du das so beschreibst, kommt irgendwie vielleicht eine erste Antwort auf die Frage zustande, welche Funktion der Film, oder vielleicht auch: der Dokumentarfilm für unser Nachdenken über solche Komplexe – Geschichte, Erinnerung, Architektur – einnehmen kann, er kann nicht nur sichtbar machen, sondern Dinge in ein Verhältnis zueinander setzen, so in etwa hat Alexandre Astruc ja die Fähigkeit des Mediums zu denken beschrieben. Die Handkamerabilder beschreiben erst mal nur ein sehr einfaches, nicht aber triviales Verhältnis, das zwischen Blickendem und Erblicktem, also z. B. einer Schmierei auf einer Hauswand. Jenes, das Du als Riss in der Wirklichkeit bezeichnest, ist dann immer auch ein Riss raus aus diesem Eindruck von Objektivität und Sachlichkeit, da wird dann ein Mensch sichtbar, oder spürbar, der dem nachgeht. Die Texte strahlen ja doch auch eine große Objektivität aus, es sind Dokumente, sie werden verlesen. Wie bist Du vor diesem Hintergrund mit der Frage der Stimme umgegangen, warum hast Du Dich z. B. entschieden, diese Dokumente selbst/nicht selbst zu verlesen?
U. A.: Zuerst einmal würde ich mich dem, was du als „Eindruck von Objektivität“ bezeichnest, anschließen. Objektivität gibt es beim Filmemachen nicht. Die statischen Aufnahmen im Film sind alle gebaut oder gestaltet, natürlich nicht im Sinn von Aufbauten, sondern als konstruierte Bilder. Das schafft eine filmische Wirklichkeit, die, obwohl dokumentarisch, auch eine Fiktion ist. Daran haben auch Schnitt und Sound ihren Anteil. In ZUSTAND UND GELÄNDE wurde ja auch nur ein Bruchteil der Aufnahmen, die wir gedreht haben und ein Bruchteil der Dokumente aus Archiven und sonstigen Quellen verwendet.
Nach der Recherche hatte ich ein großes Konvolut an Dokumenten, insgesamt etwa 2000. Die habe ich André Siegers, mit dem ich am Text gearbeitet habe, zur Durchsicht gegeben. Nach ein paar Tagen meinte er, dass der Film um die neun Stunden werden müsste, um dem Material gerecht zu werden. In vielen Fällen waren die Dokumente seitenlang und konnten im Film so nicht verwendet werden. Der Text ist also insgesamt ediert und schon aus diesem Grund ist es ein Filmtext im oben genannten Sinn.
Deine Frage nach dem Voice-Over zielt sicher darauf ab, warum ich den Text am Ende nicht selbst gesprochen habe. Die erste Idee zum Voice-Over kam von Ludwig Berger, dem Sounddesigner des Films. Er hat vorgeschlagen die Texte von Passanten lesen zu lassen. Dazu haben wir Probeaufnahmen gemacht, die unglaublich gut, im Sinn von unmittelbar waren. Am Münchner Platz in Dresden, hat eine Frau den Frieda-Geßner-Text gelesen. Nach dem ersten Abschnitt fing sie an zu weinen und war dann nicht mehr zu beruhigen. Für uns war das unerwartet, dass die Texte so eine starke Wirkung auf die Leute hatten. Die waren in alltäglichen Situationen und überhaupt nicht darauf gefasst. Das ist was anderes als im Archiv Akten zu lesen. Die Arbeit am Script und im Schnitt hat gleichzeitig stattgefunden und ich habe dabei die Texte immer wieder selbst eingesprochen. Neben den Entscheidungen welcher Text zu welchem Bild passt, was nacheinander kommen soll usw. hat sich dabei auch eine bestimmte Tonalität beim Sprechen herausgebildet, so dass Ludwig und ich irgendwann fanden, dass es die Vielstimmigkeit nicht braucht. In den Texten und zwar in jedem Text steckt so viel Gewalt, dass einem immer bewusst sein muss, was man da liest. Diese Tonalität war mir vor allem wichtig und ich finde, dass Katharina Meves sehr gekonnt an diesem Abgrund entlang liest. Das war am Ende Entscheidender als die Autorenschaft in der Stimme. Meine schönste Erfahrung beim Filmemachen ist ohnehin die der Kollaboration. Es ist gut, dass man das nie ganz alleine machen kann.
„Eine extrem präzise Montage von aktuellem Bildmaterial und archivierten Schriftstücken.“
Der Spiegel
Essay
„Dieses anspruchsvolle Filmessay ist eine echte Arthouse-Entdeckung für Doku-Fans.“
programmkino.de
Sonja Lau
Was ist ein Gelände? Und wer ist dafür zuständig? Gedanken zu ZUSTAND UND GELÄNDE
In einer bekannten Serie eines noch bekannteren Filmemachers heisst es ganz am Ende: „Warum gehen zwei Engel neben Franz und was ist das für ein Kinderspiel? Wo gehen Engel neben einem Menschen? Zwei Engel am Alexanderplatz in Berlin 1928, neben einem ehemaligen Totschläger, jetzigem Einbrecher und Zuhälter?“ Das ist eine berechtigte Frage, und sie kennt auch ihre Antwort. So wird die Erzählstimme des Weiteren verraten „Tja, die Geschichte (…) ist nun soweit fortgeschritten. Es naht der Punkt, an dem alles erhellt wird.“ Wir befinden uns im Epilog des Fernseh-Epos „Berlin Alexanderplatz“. Schon bald werden im Zuge dieser filmischen Erhellung die Toten wieder den Lebenden begegnen, und alles bisher Geschehene miteinander verschränken. Das Ganze wirkt nicht nur wie „der Traum des Traums des Franz Bieberkopf “, wie der eingeblendete Bildtitel laut mitzudenken scheint, sondern letztlich auch wie „ein Traum von Erinnerungskultur“ an sich. Nichts geht verloren, alles reaktualisiert sich.
Im Folgenden werden keine geschichtsträchtigen Engel die Filmemacherin begleiten. Der filmischen Arbeit „Zustand und Gelände“ von Ute Adamczweski stehen, zumindest im engeren Sinne, nicht einmal ehemalige Totschläger, Einbrecher und Zuhälter zur Verfügung. Die Sache verhält sich also schwieriger. Sie muss mit dem auskommen, was ist, und sich an dem orientieren, was von der Kamera ganz ohne phantasmagorisches Theater eingefordert werden kann. Und sie wird dabei – unheimlicherweise, und unerhörter Zufall! – in etwa dort ansetzen, wo die Geschichte von Franz Biberkopf und sein filmisches Memorandum endet.
Es gilt zuvor zu verstehen und zu erinnern: 1933 ergreifen bekanntermaßen die Träger des Hakenkreuzes, die bereits im Epilog von Berlin Alexanderplatz die Fahnen schwingen, die Macht. Zeitgleich, und weitaus weniger überliefert, entstehen die ersten Straflager, gerichtet an Sozialisten und andere politische Gegner. Das Zentrum der Bestrafung verschiebt sich dabei von der Hauptstadt in die Region Sachsens, deren souveräne Arbeiterorganisation und linkspolitische Gesinnung in den Augen der Nationalsozialisten besonders radikale Strafmaßnahmen notwendig macht. Es werden Lager entworfen und eingerichtet, vor allem aber zwischengenutzt. Sporthallen, Gemeindezentren, und viele andere alltägliche Einrichtungen treten an die Stelle von Internierungsanstalten, unmissverständlich „wilde Konzentrationslager“ genannt.
In großem Umfang hat Ute Adamczweski die Archive wie auch die Landstriche besucht, die die Topographie dieses frühen Strafregimes umreissen. Ihre Recherche, insbesondere auf der Ebene der Textquellen, lässt wenig Zweifel. Nicht nur antizipieren die Strafeinrichtungen in ihrer verwaltungstechnischen Organisation bereits konkret den weiteren Verlauf der Gewalt. Sie geben auch Zeugenschaft über eine unterschwellige Gewaltbereitschaft und gesellschaftliche Komplizenschaft, insofern sie nur selten unbemerkt, in der Regel aber inmitten der Gemeinde, im Zentrum des Dorfes oder der Ortschaft, ihr Tun manifestierten. Adamczweskis akribische Montage von Orten der Gewalt nimmt aber auch eine weitere Besonderheit in den Fokus. Denn als Prototypen der Zwischennutzung trennen heute keine Zäune oder Besuchereingänge das Geschehene vom Gegenwärtigen. Das Gedenken an diese Orte ist uneindeutig, verschroben, oder gänzlich abwesend. Neubesetzung oder Umnutzung der Anwesen, die Wiederinbetriebnahme ihrer vorangehenden Funktionen, oder schlichtweg Leerstand prägen das dokumentarische Material. Gedenktafeln unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung existieren periphär, manchmal sind es Graffiti oder Kritzeleien, die diese Gedenkfunktion versuchsweise auf den Fassaden einnehmen. Was dann seltsam troststiftend wirken kann. Denn bis auf drei, vier Szenen, in denen sich die Gemeinschaft regelrecht ballt – Weihnachtsmarkt, Kunsteisfläche, karnevaleske Großraumparty – bleibt der Film über lange Strecken seiner menschenleeren Stasis treu.
Was sich daraus spannt, sind die Umrisse einer Topographie vergangener Gewalt, mehr noch aber eines Deutschlandbilds der Gegenwart, das aus Ähnlichkeiten, Normen und ewigen Wiederholungen zu bestehen schein. Die Grenzen sind nicht eindeutig gezogen. Straflager und Privatwagen, Nahverkehr und Spielplatz, werden zu gleichsam indifferenten Strukturen des Alltags, die eine erstaunliche Gelenkigkeit darin beweisen, den gewaltschwangeren Textpassagen einen visuellen Unterbau zu bieten. Die Textauszüge kontaminieren die gefilmten Orte und Räumlichkeiten und brechen deren selbstauferlegte Unsichtbarkeitsmaske stückweise herunter. Gleichsam aber scheint ist, als hätten die Orte selbst schon lange darauf gewartet, eben diese Worte auf die Lippen gelegt zu bekommen, wie in der Hoffnung auf das Ende eines sehr verdüsterten Dornröschenschlafs. Auf diesem „Gelände“ haben die vielen archivarischen Zeugnisse erst einmal viel Raum, sich auszubreiten. Nur konsequenterweise finden sich so unter den vorgelesenen Stimmen neben Opfern des frühen Strafregimes, „Bestellungen“ von Straflager-Inventar, oder Verhaftungsbefehlen, bald auch Texte aus der Nachkriegszeit, Gedenkvorschläge aus der DDR, oder Schilderungen von Gewaltübergriffen aus der Gegenwart. Sie erzählen von den betroffenen Körpern, aber auch, unterschwellig doch in zunehmende Deutlichkeit, von den Räumen, die das Geschehen formten. Darunter Schreibtische und gute ausgestattete Verwaltungseinrichtungen, die beim Verfassen der Haftungsbefehle unterstützen, Zellen, Grossküchen, Kneipenmit- und gegeneinander, oder diese schmale Brücke am Ortsende, über die man so gut flüchten konnte, ausser an dem einen Tag, als die Rechten davon Wind bekamen und schon mit Schlagstöcken dort warteten.
Ein Gelände, so zeigt es Adamczweski in einer einschlägigen Bildabfolge, kann sich innerhalb von Augenblicken in einem vermeintlich geschützten Ort einrichten – z. B. mit dem simplen Fensteraufdruck „Zu vermieten“. Heute passieren Geländewagen (SUVs) aller Art die großen Hauptstädte wie in Erkundung eines erneut zum Verkauf stehenden Territorium. Das Gelände, um das es hier geht, bedarf keiner landvermesserischen Kategorien mehr. Es dehnt sich jenseits der Sichtbarkeiten, macht den Ort zum Nicht-Ort, schiebt Geschehenes an den Rand der Geschichte, expansionsfreudig wie das Vergessen selbst. Nicht (nur) die Zeit, sondern das Raumverständnis gerät aus den Fugen. Es wird nicht reichen, so wird es in Adamczweskis Arbeit deutlich, dieses Gelände in seiner topographischen Ausdehnung zu untersuchen. Wir müssen es auch auf seinen Zustand befragen. Und auf der Suche nach dem, was es letztlich ist, was man da sieht, in diesem dunklen Märchen, das ja leider keines ist, rücken dann vielleicht doch wieder diese zwei Engel an, nicht wirklich natürlich, aber stellvertretend für das, was keiner sonst sagen kann. Und sie kennen den Titel von Adamczweskis Film, und sie sehen was darin geschieht, und der eine fragt „Was ist das für ein Gelände, das kein Ort mehr sein kann?“ und der andere fragt, „Wer ist nun dafür zuständig?“
Beamte aller Zeiten haben vor diesen speziellen Blick auf das „Gelände“ von jeher abzulenken gewusst, wenn sie Absperrungen und Blickschutze mit dem Hinweis „Hier gibt es nichts zu sehen“ versahen. Gemeint ist: „Schonen Sie sich vor dem, was sie erblicken könnten“, aber auch: „Sie werden den Kontext, das Geschehene, aus dem was Sie vorfinden (den Zustand) ohnehin nicht begreifen“ oder „Sie sind hier nicht zuständig“. Ute Adamczweski hingegen spricht dem Betrachter seine forensische Intuition nicht ab. Geschaut werden soll und muss genau dorthin, wo es nichts zu sehen gibt. Dahinter verbirgt sich nicht nur der Versuch einer Zeugenschaft von dem, was der Geschichte durch die Lappen gegangen ist. Es ist auch eine Geste der Zivilcourage, die von der Abwesenheit einschlägiger Beweislagen nicht beeinträchtig werden darf. Diese Geste zielt in ihrer Notwendigkeit auf die Sehgewohnheit des Betrachters, die Aktualisierung unseres Geschichtsverständnis, wie auf das dokumentarische Arbeiten an sich.
Es wird die Aufgabe des Betrachters und nicht dieses Textes sein, diesen Prozess ungeschützt und vorbehaltlos zu durchlaufen. Schlussendlich werden die Mikrodramen des Sichtbaren womöglich unaufgefordert zu sprechen beginnen. Als am Ende des Filmes Reinigungspersonal durch das modrige, knietiefe Wasser eines Swimmingpools watet, registriert der Rezeptionsapparat: Regenwasser, Gummistiefel, Geschichtssuppe, (historisches und abwassertechnisches) Klärungsbedürfnis. Es war, muss, wird etwas geschehen! Erinnern und Gedenken, ist Geländekenntnis in all seinen Dimensionen. Zivilcourage aber, so verdankt man es dem Geschick dieses Films, ist Geländekenntnis unter Einschluss der eigenen Zuständigkeit.
„Der Film beeindruckt durch seine strenge Form. Monoton ist er aber nicht. Viele feine Details sind in die Gesamttextur eingewoben.“
MDR
BIOGRAFIEN
UTE ADAMCZEWSKI
UTE ADAMCZEWSKI arbeitet als Videokünstlerin und Filmemacherin in Berlin. Ihre Videoinstallationen wurden unter anderem auf der Architektur Biennale Venedig, der Shanghai Kunst Biennale und in der Pinakothek der Moderne München gezeigt. Ihre letzten Arbeiten NEUE ORDNUNG (2013) und LA VILLE RADIEUSE CHINOISE (2015) wurden von den KW-Institute for Contemporary Art in Berlin koproduziert. ZUSTAND UND GELÄNDE ist ihr erster Dokumentarfilm.
ANDRÉ SIEGERS
ANDRÉ SIEGERS arbeitet als Filmemacher und Autor. Seine Arbeiten wurden auf diversen Festivals, in Museen und Galerien gezeigt. Seine Film SOUVENIR feierte seine Premiere im Forum der Berlinale. Zusammen mit Alejandro Bachmann und Bernd Schoch konzipierte und veranstaltete er die Bewegtbildreihe ABGEGUCKT an der Volksbühne, Berlin. Er ist Mitglied der UVO-Gruppe.
STEFAN NEUBERGER
STEFAN NEUBERGER ist Kameramann und Filmemacher. Er studierte Film an der Filmakademie Baden-Württemberg. Sein Kurzfilm KEDI feierte auf den Kurzfilmtage Oberhausen Premiere. MEANWHILE IN MAMELODI (Regie: Benjamin Kahlmeyer) gewann den HBO Documentary Films Emerging Artist Award beim Hot Docs Toronto und wurde für den Deutschen Kamerapreis nominiert. Zuletzt gewann seine Arbeit HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT mit Regisseur Thomas Heise zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Preis beim Vision Du Réel und dem Crossing Europe Filmfestival Linz, den Caligari Preis auf der Berlinale und den Deutsche Dokumentarfilmpreis.
LUDWIG BERGER
LUDWIG BERGER ist Klangkünstler und Komponist. Zuhause in Milano und Zürich, schafft er elektroakustische Kompositionen, Radiostücke, Klanginstallationen und Sounddesign für Film und Theater. Als wissenschaftlichen Mitarbeiter am Institut für Landschaftsarchitektur der ETH Zürich untersucht er die klangliche Dimension von urbanen Landschaften, japanischen Gärten uns alpinen Gletschern. Berger betreibt das experimentelle Label Vertical Music und ist Preisträger des Prix Ars Electronica.
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