DER LETZTE
DER UNGERECHTEN
Originaltitel: LE DERNIER DES INJUSTES
»Benjamin Murmelstein ist der einzige Vorsitzende des Judenrats, der überlebte. Das macht sein Zeugnis so unendlich wertvoll. Er lügt nicht, er ist ironisch, sardonisch, hart gegenüber anderen und sich selbst. Bezug nehmend auf den Titel von André Schwarz-Barts Meisterwerk ›Der Letzte der Gerechten‹ nennt er sich selbst ›Der Letzte der Ungerechten‹. Somit hat er diesem Film den Namen gegeben.«
C. Lanzmann
DER LETZTE
DER UNGERECHTEN
Originaltitel: LE DERNIER DES INJUSTES
»Benjamin Murmelstein ist der einzige Vorsitzende des Judenrats, der überlebte. Das macht sein Zeugnis so unendlich wertvoll. Er lügt nicht, er ist ironisch, sardonisch, hart gegenüber anderen und sich selbst. Bezug nehmend auf den Titel von André Schwarz-Barts Meisterwerk ›Der Letzte der Gerechten‹ nennt er sich selbst ›Der Letzte der Ungerechten‹. Somit hat er diesem Film den Namen gegeben.«
C. Lanzmann
Der Zeuge
Benjamin Murmelstein (1905–1989) · Österreichischer Jude, Rabbiner und Gelehrter. Von 1938 bis Januar 1943 leitendes Mitglied der damals von den Nazis kontrollierten Wiener Kultusgemeinde und ab Ende 1944 letzter und einziger überlebender ›Judenältester‹ von Theresienstadt. In Lemberg (Galizien) geboren. Ab 1923 in Wien, dort Studium der Philosophie und Semitischen Sprachen und rabbinische Ausbildung, 1927 Promotion, fast zeitgleich Ordination zum Rabbiner. Von 1930–1938 Tätigkeit als Religionslehrer und Dozent, ab 1931 auch als Rabbiner. Nach dem Anschluss und der Zerschlagung sämtlicher jüdischer Institutionen 1938 Verwaltungsaufgaben in der in ›Jüdische Gemeinde Wien‹ umbenannten Kultusgemeinde, faktisch eine nationalsozialistisch kontrollierte Zwangsorganisation (ab Ende 1942 nur noch ›Ältestenrat Wien‹). Ab 1940 wird er ihr stellvertretender Leiter unter ihrem von den Nazis eingesetzten Amtsdirektor Josef Löwenherz. Dieser hatte ihm bereits 1938 die Leitung der Auswanderungsabteilung übertragen, die eng mit der von Adolf Eichmann geschaffenen ›Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien‹, einer SD-Dienststelle, zusammenarbeiten muss. Eine offensichtliche Instrumentalisierung der jüdischen Institutionen für die Judenverfolgung. Murmelstein wird Eichmanns direkter Ansprechpartner. Immerhin: Bis November 1941 können mehr als 120.000 Juden aus Wien emigrieren. Verschiedene Auslandsreisen, u. a. nach England. Im Herbst 1939 muss Murmelstein als jüdischer Funktionär Transportzüge mit Wiener Juden ins polnische Nisko begleiten, eine »Generalprobe auf die Endlösung«. Ab Frühjahr 1941 wird sein Büro dann auch zunehmend zu Hilfsdiensten bei Deportationen hinzugezogen. Bis Ende 1942 ist die Wiener Judenschaft fast zur Gänze deportiert. Murmelstein wird nicht mehr benötigt und am 29. Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert. Dort ist er zunächst als ›Zweiter Stellvertreter des Judenältesten‹ (hinter Jakob Edelstein und Paul Eppstein) für das Gesundheitswesen und die Technische Abteilung zuständig. Später wird er sich sehr in der ›Stadtverschönerung‹ einsetzen, in der Hoffnung, ein vorzeigbares Ghetto sei eher zu halten. Nach der Hinrichtung seiner Vorgänger ist er ab 27. September 1944 faktisch, ab Dezember 1944 offiziell ›Judenältester‹ des Ghettos. Am 5. Mai 1945 übernimmt das Internationale Rote Kreuz die Leitung in Theresienstadt. Murmelstein bleibt und wirkt bei der Auflösung des Ghettos mit. Im Juni 1945 wegen vermeintlicher Kollaboration inhaftiert, am 3. Dezember 1946 von einem tschechischen Volksgericht von allen Vorwürfen freigesprochen. Murmelstein zieht mit seiner Familie nach Rom. Eine Anstellung als Rabbiner bleibt ihm versagt, er wird Handeslvertreter. 1961 meldet er sich als Zeuge für den Eichmann-Prozess, sein Aussageangebot wird zu seiner Enttäuschung abgelehnt, obwohl er Eichmanns Rolle bei der ›Endlösung‹ aus erster Hand bezeugen kann. Ebenfalls 1961 erscheint sein Buch ›Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann‹ (Dt. Ausgabe im Czernin Verlag Wien 2014). Am 27. Oktober 1989 stirbt Murmelstein in Rom. Der Großrabbiner von Rom verweigert dem Verstorbenen das Totengebet.
Zu Theresienstadt vgl. EIN LEBENDER GEHT VORBEI.
»1975 filmte ich [Murmelstein] eine Woche lang in Rom. … Diese langen Interviewstunden, die viele Enthüllungen aus erster Hand brachten, haben mich seither nicht losgelassen. Ich wusste, ich verwahre etwas Einzigartiges, schreckte jedoch vor der schwierigen Aufgabe zurück, daraus einen Film zu konstruieren./ Ich habe aus mehreren Gründen darauf verzichtet, die Aufnahmen für SHOAH zu verwenden. Zum einen ist SHOAH ein epischer Film, getragen von der Unausweichlichkeit der Tragödie. Dieser Film interessierte sich nicht für die Lebensweise der Menschen in den Ghettos, im Fokus lag allein die Vernichtung, der Tod. Aber die Problematik der Judenräte hat mich immer sehr beschäftigt: Nie habe ich geglaubt, ihre Mitglieder seien Kollaborateure gewesen, das waren Menschen, die man zum Schlimmsten gezwungen hatte, das ist ein großer Unterschied. Und Murmelstein ist wiederum ein besonderer Fall: Anders als andere Vorsitzende der Judenräte weigerte er sich, die Deportiertenlisten zu erstellen, wie von den Deutschen verlangt. / Was er erzählt, ist eine großartige historische Lektion. Er hat mich durch seine Intelligenz verblüfft. Und ich spürte, dass er aufrichtig und ehrlich war. … Es geht um eine Wiedergutmachung, die ich leisten will. Der Film zeigt, dass es nicht die Juden waren, die ihre Brüder ermordet haben. Er zeigt, wer die Mörder sind. / Die Dreharbeiten zu SHOAH waren aufgrund der Konstruktion und Struktur des Films bereits dermaßen kompliziert, dass ich die Murmelstein-Gespräche nicht einbauen konnte, ohne den Film auf 20 Stunden zu verlängern. Ich habe kurzerhand beschlossen, mich der Interviews zu einem späteren Zeitpunkt anzunehmen. Die schwierige Frage nach der Rolle der Judenräte war trotzdem auch schon in SHOAH präsent. Es mag paradox erscheinen, dass ich mit Murmelstein den letzten lebenden Judenrat zur Hand gehabt hätte, um dann des Filmes wegen für SHOAH den toten Präsidenten Adam Czerniaków aus Warschau zu verwenden. Im Film verkörpert Raul Hilberg Czerniaków, in dem er dessen Tagebuch kommentiert, welches Czerniaków bis zu seinem Suizid 1942 täglich geführt hatte. / Die Probleme, mit denen Murmelstein konfrontiert war, waren identisch mit denen der anderen Vorsitzenden der Judenräte in Osteuropa. … Der Fall Murmelstein ist trotzdem besonders, weil das »Vorzeigeghetto« Theresienstadt absolut einzigartig war:
Es musste der Öffentlichkeit präsentiert werden und das wurde es auch. Dieser Umstand geht ganz klar aus einem meiner früheren Filme EIN LEBENDER GEHT VORBEI hervor. Der Film beschreibt den Besuch des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Theresienstadt im Juni 1944 nach der von Murmelstein umgesetzten »Verschönerungsaktion« des Ghettos. / Theresienstadt ist absolut zentral im Zusammenhang mit der Genese und dem Prozess der ›Endlösung‹. Man muss die Rolle Theresienstadts begreifen, um begreifen zu können, wie die Nazis im Zeitraum von nur zwei Jahren den Weg von der offenen Verfolgung der Juden bis zu den Gaskammern zurücklegen konnten. Aber die Thematik ist zu komplex, als dass ich sie in SHOAH hätte integrieren können – ich musste einen eigenen Film darüber drehen. … / Der Film erlaubt es, die Genese der Endlösung so zu verstehen, wie man sie bislang nicht verstanden hat. Er zeigt, wie in weniger als drei Jahren die Absonderung, Ausschließung, Verfolgung der Juden in die Massenvernichtung in den Gaskammern mündet. Die unfassbare Geschwindigkeit der Entwicklung ist bislang nie dargestellt worden, auch nicht in SHOAH. Man kann SHOAH vollständiger begreifen, wenn man SOBIBOR oder eben den neuen Film über Murmelstein gesehen hat…«