Winter adé
und andere Klassiker von
Helke
Misselwitz
Poesie des DDR Alltags und zugleich Vorboten der Wende!
Von offizieller Seite abgelehnt, lief »Winter adé« 1988 im Wettbewerb des Dokfilmfestivals in Leipzig und wurde mit der Silbernen Taube ausgezeichnet. Der Filmklassiker der Meisterschülerin von Heiner Carow erscheint erstmals in restaurierter Fassung in einer reich ausgestatteten Werkausgabe.
Eine Bahnreise quer durch die DDR verbindet Interviews mit sehr unterschiedlichen Frauen. Von Zwickau bis Rügen nähert sich Helke Misselwitz empathisch und behutsam ihren Gesprächspartnerinnen an, erfährt von ihrem Alltag, Problemen und Sehnsüchten: Sie trifft unter anderem auf zwei junge Punkfrauen, eine Arbeiterin aus einer Brikettfabrik, eine Berliner Ökonomin und eine 85-jährige Dame, die gerade ihre diamantene Hochzeit feiert. Die realistisch-poetischen Alltagsporträts fügen sich zu einem vielgestaltigen Kaleidoskop aus Erinnerungen, Wünschen und Frustrationen, die das Leben und die Stimmungen in der DDR ein Jahr vor deren Zusammenbruch auf plastische Weise beschreiben.
Die Filme der DVD:
Winter adé (1988) 116 Min.
Aktfotografie – z.B. Gundula Schulze (1983)
12 Min.
DEFA KINOBOX Sujet »35 Fotos« (1985)
7 Min.
DEFA KINOBOX Sujet »Tango« (1985)
7 Min.
DEFA KINOBOX Sujet »Marx-Familie« (1988)
7 Min.
TangoTraum (1985)
20 Min.
Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann (1989)
52 Min.
Der Autor
Dr. Claus Löser wurde 1962 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren. Als junger Mann arbeitete Löser dort als Filmvorführer, Schriftsteller und Super-8-Filmer und war eng mit der Untergrund-Kunstszene der 1980er Jahre verbunden. 1983 war er Mitbegründer der Musikimprovisationsgruppe »Die Gehirne«, der er bis heute angehört. Seit Anfang der 1990er Jahre ist Löser Programmgestalter des Programmkinos Brotfabrik im Berliner Stadtteil Weißensee (Pankow) und arbeitet außerdem als Kurator, freier Journalist und Filmhistoriker. Von 1990-1995 studierte er Dramaturgie und Filmwissenschaften an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. 1996 war er Mitbegründer von »ex.oriente.lux«, einem Archiv für ostdeutsche Underground- und Experimentalfilme, und Mitherausgeber der Kurzfilm-Kompilation »Gegenbilder: Filmische Subversion in der DDR 1976-1989« (zusammen mit Karin Fritzsche). Löser, der in Berlin lebt, führte 2009 Regie bei dem Dokumentarfilm »Behauptung des Raums – Die Galerie EIGEN+ART 1983 bis 1989« und 2015 »Ornament & Verbrechen« (beide mit Jakobine Motz) 2009 kuratierte er die Retrospektive der Internationalen Filmfestspielen »Winter Adé – Filmische Vorboten der Wende«. 2011 wurde er mit der Arbeit »Strategien der Verweigerung: Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR« promoviert. Seit 2012 wöchentliche Kolumne in der Berliner Zeitung (»Das Fliegende Auge«). Autor zahlreicher Veröffentlichungen, vor allem über Underground- und Experimentalfilm sowie über das Filmemachen unter totalitären Bedingungen, Schwerpunk: Mittel- und Osteuropa. Daneben Arbeit für Ausstellungen, Gremien, Jurys und Fachverbände sowie Lehrtätigkeit.
Alltagspoesie: Die frühen Filme von Helke Misselwitz
Claus Löser
Der Begriff der Poesie ist schwer zu fassen – worin unter anderem auch sein Reiz beruht. Wenn wir ihn in Bezug auf die frühen Filme von Helke Misselwitz anwenden und als »Poesie des Alltags«[1] bezeichnen, so ist damit ganz sicher nicht eine blumige oder etwas unscharfe Perspektive gemeint. In ihren Filmen wird niemals ein Weichzeichner eingesetzt, weder im fotografischen noch im übertragenen Sinne. Ganz im Gegenteil. Ihr Blick und der ihres Kameramanns Thomas Plenert[2] ist stets haarscharf, nie aber kalt-beobachtend. Gemeint ist hier deshalb mit dieser »Alltagspoesie« eher eine Prozesshaftigkeit der Wahrnehmung, eine grundlegende Offenheit des Betrachters gegenüber der ihn entgegentretenden Wirklichkeit. Damit sind wir schnell bei den Surrealisten und ihrer Forderung, nach einer »Poesie des Alltags« im Sinne von André Breton: »Sie trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie vermag auch eine ordnende Kraft zu sein (…). Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren.«[3] Poesie als Praxis wird in diesem Sinne nicht als romantische Perspektive verstanden, sondern als Werkzeug des kreativen Prozesses. Oder, um etwas gegenwärtiger anzusetzen, wie es bei Peter Handke zu lesen ist: »Beteiligt denken ist Poesie.«[4] Genau dieses von Handke geforderte »beteiligte Denken« findet in den Filmen der Regisseurin statt. Bei ihrem Blick auf den DDR-Alltag und der sich daran bewegenden Menschen handelt es sich zweifellos um eine zutiefst empathische Perspektive. Hiermit kommen wir auch schon bei der Funktion der Fotografie an, die in vielen Filmen von Helke Misselwitz eine unübersehbare Rolle spielt.
Ein Abrisshaus in Ost-Berlin: nackt stehen die einstigen Zimmer vor den Augen der Zuschauer, halb abgebrochene Treppen weisen noch Wege von Etage zu Etage. Das Aderwerk der Strom- und Wasserleitungen liegt bloß, an den Wänden Tapetenreste und Schatten von Möbeln. Die Spuren der Bewohner haben sich eingeschrieben; sie sind gerade noch sichtbar. Ganz bald schon werden sie endgültig von den Baggern eingerissen und dann für immer verschwunden sein. Kurz bevor dies geschieht, fixiert die Kamera noch eine im Wind klappernde, auf- und zuschlagende Tür. Wir werden von ihr eingeladen, betreten die dahinter liegenden, imaginären Räume. Und schon befinden wir uns mitten im Kurzfilm »Haus«, 1983 gedreht von Helke Misselwitz. Es war dies die erste von neun Arbeiten, die von der damals bereits 36-jährigen Regisseurin für das DEFA-Studio hergestellt wurden.[5] Allerdings blieb der Film zunächst unveröffentlicht. Den Auftraggebern war die vorgeschlagene, offene Struktur offenbar suspekt. Der kurze Film blieb jahrelang unaufgeführt, unterlag damit quasi einem Verbot. Erst 1988 fand er unter dem Titel »Marx-Familie«[6] Eingang in die »DEFA Kinobox 61/1988« – also in der unmittelbaren Vor-Wendezeit, als auch in der DDR-Anzeichen von Glasnost und Perestroika nicht mehr zu übersehen waren.[7]
Mit »Marx-Familie« unternahm Misselwitz in nur sechs Minuten eine überraschende Fusion von zwei räumlich und zeitlich weit auseinander liegenden Sujets. Die unmittelbar erlebte Umgebung der Regisseurin wird in diesem Film mit der Biografie von Jenny von Westphalen während des gemeinsam mit Karl Marx erlebten Londoner Exils (1850-56) »überblendet« – dies im konkreten filmischen, als auch im übertragenen Sinne. Aus dem Off hören wir Briefzitate von Marx und seiner Frau, parallel dazu tastet sich die Kamera durch die Innenräume des in Ost-Berlin stehenden Abrisshauses, sie fährt über Müll und zerstörtes Interieur, vor allem aber über auf dem Boden verstreute Fotografien. Darauf sind Gebäude, Landschaften und Personen zu sehen: Menschen, in Zufälligkeiten festgehalten oder auch aus festlichen Anlässen für die Kamera posierend. Neben diesen Bildern stehen Zeichnungen und Fotos aus dem Leben der Marx-Familie. Durch dieses komprimierte Nebeneinander von Persönlichkeiten offizieller Geschichtsschreibung einerseits und Elementen des scheinbar banalen DDR-Alltags andererseits öffnen sich weite Assoziationsräume. Misselwitz schafft es, Marx als Ikone des »Arbeiter- und Bauernstaates« sowie seine Frau vom Sockel auf Augenhöhe zu holen. Im Umkehrschluss dazu wird das Alltagsleben von namenlos bleibenden Menschen aus der jüngsten Geschichte in die Wahrnehmung gerückt. Diese überraschende Montage wirkt keinen Moment lang banal. Weder die eine noch die andere Seite wird dadurch trivialisiert oder überhöht. Die sechs Minuten Film werden zum fast beiläufigen Kommentar auf die Nöte der in ihre Zeit geworfenen Menschen: spielerisch, wertungsfrei, völlig unsentimental und dabei doch ungemein poetisch. Ohne Zweifel: der Kurzfilm steckt voller Poesie.
Helke Misselwitz, geboren 1947 in Zwickau, aufgewachsen in der Vorstadt Planitz, kam relativ spät zum professionellen Filmemachen. Dies war keine verzögerte Berufung, sondern Ergebnis der komplizierten Zugangsbedingungen zur »wichtigsten aller Künste«[8]. Sie legte einen langen Weg zurück, um schließlich ihren hartnäckigen Wunsch erfüllen zu können. Nach einer Tischlerlehre und der Ausbildung zur Physiotherapeutin zog sie Anfang der 70er vom Bezirk Karl-Marx-Stadt nach Ost-Berlin um, fand als Regieassistentin Anstellung beim Fernsehen der DDR, zunächst freiberuflich, später in Festanstellung. 1978 gelang es ihr endlich, zu einem Regiestudium nach Potsdam-Babelsberg delegiert zu werden. An der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) gehörte sie zur legendären Seminargruppe u.a. mit Thomas Heise, Herwig Kipping, Hans-Ulrich Michel und Petra Tschörtner[9]. Vor allem zu letzterer entwickelte sich eine enge, zeitlebens wirksame Freundschaft, die sicher beide darin bestärkte, als weibliche Studierende selbstbewusster aufzutreten und auch explizit weibliche Themen aufzugreifen.
Es ist auffällig dabei, dass bereits die Stoffe der ersten Filmübungen von Helke Misselwitz an der HFF von zwei Linien geprägt waren, die sich bis heute kontinuierlich durch das filmische Werk der Regisseurin ziehen. Mehrfach verbindet sich die intensive Beschäftigung mit den Verwerfungen der jüngsten deutschen Geschichte mit dem Bemühen, herkömmliche formale Methoden zu überwinden und dabei auch die Gattungsgrenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktivem aufzulösen. »Verstecken« (1979) aus dem ersten Studienjahr beschrieb konsequent aus der Perspektive von Kindern eine Geschichte von Vertrauen und Verrat im Nationalsozialismus. Das in der DDR überstrapazierte historische Sujet erlebte dabei eine erfrischend indirekte Annäherung. »Haus.Frauen. Eine Collage« (1982) umreißt in kurzen szenischen Kapiteln die Stationen von weiblichen Biografien in verschiedenen Zeitepochen. Weimarer Republik, Nazizeit, Nachkrieg und DDR behaupten dabei nicht die sonst offiziell übliche fortschrittliche Entwicklung. Vielmehr verweben sich die Epochen zu einem fiktionalen Geflecht, das nichts aufdrängt, sondern den Zuschauern viel Raum für eigene Schlüsse erlaubt. Im knapp einstündigen HFF-Abschlussfilm »Die fidele Bäckerin« (1982) ging es ebenfalls um die Gegenwart der Vergangenheit. Das Glücksstreben einer Kleinbürgerin wird ins Verhältnis von Opportunismus und Diktatur gesetzt.
Bereits in den Hochschularbeiten von Misselwitz aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren wurden Fotografien zum Teil ihrer filmischen Inszenierung. In »Ein Leben« sind es Fotos und Briefe, die sie in einer Kiste auf dem Sperrmüll fand, in denen sie eine Biografie entdeckt. In »Haus.Frauen. Eine Collage« sind es Fotos in Zeitungen, die zur zeitlichen Orientierung durch fiktive Biografien dienen. In »Die fidele Bäckerin« finden sich Familienschnappschüsse als Kehricht auf der Müllhalde wieder. Erzählerisch erfüllen sie dabei mehrere Funktionen – indem sie über den konkret filmischen Rahmen hinausweisen und biografische Zusammenhänge andeuten, sparen sie Zeit und umständliche Erklärungen. Ästhetisch schaffen sie reizvolle »Bilder in Bildern«, fungieren also (wiederum von den Surrealisten so geschätzte) als »Trompe-l’œil«-Arrangements, mit denen die lineare Erzählweise aufgebrochen und der Betrachter zur visuellen Ablenkung verführt wird. Diese »introspektive Montage« setzt Fantasiepotentiale frei, sie stellt damit die im »Sozialistischen Realismus« sonst so dominant-allwissende Perspektive sanft in Frage.
Mit den an der Filmhochschule entstandenen Arbeiten machte Misselwitz ihren bereits deutlich ausgeformten Autorinnenstandpunkt deutlich. Dieser passte allerdings wenig zum für sie vorgesehenen, weiteren Berufsweg. Da sie von der publizistischen Abteilung des DDR-Jugend -Fernsehens zum Studium delegiert worden war, musste sie nach dem Diplom auch wieder dorthin zurück. Aus dieser Struktur gab es kein Entkommen, es sei denn, man schlug den sicheren (und gut bezahlten) Arbeitsplatz aus und ließ sich auf das Risiko der freiberuflichen Arbeit ein. Was heute für filmische Berufseinsteiger selbstverständlich ist, war in der DDR jedoch extrem ungewöhnlich. Um sich auf ihren Weg nicht zu verlieren, entschloss sich Helke Misselwitz 1982 genau zu diesem Schritt. Statt also »ihren Job zu machen« und auf bessere Zeiten zu warten, ging sie in die Offensive: Sie schlug die Festanstellung beim Fernsehen aus. Mit diesem Entschluss entzog sich die inzwischen Mitt-Dreißigjährige zwar ihrer sozialen Absicherung, fasste jedoch ihr Lebensziel umso konsequenter ins Auge. Sie wollte sich nicht länger verbiegen – sie wollte Filme nach eigener Intention machen. Dieser Entschluss war das Eine. Etwas Anderes waren die DDR-typischen Gegebenheiten. Es war in der DDR nicht möglich, unabhängige Autorenfilme zu realisieren. Wollte man nicht in den Westen Deutschlands fliehen, blieb zunächst nur der »Marsch durch die Institutionen«[10] übrig. Das DDR-Fernsehen kam als Start dafür nicht in Frage.
Zunächst hielt sich die alleinerziehende Mutter als Hilfsarbeiterin diverser Jobs über Wasser. So als Aufsichtskraft in der legendären Galerie »Sophienstraße 8« in Berlin-Lichtenberg oder später als Tellerwäscherin in einer MITROPA-Bahnhofsgaststätte im selben Stadtbezirk.[11]. Dieser anhaltende Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit der DDR führte zu wertvollen Erfahrungen, die später in das künstlerische Werk der Regisseurin ihren Niederschlag finden sollten.[12]
Innerhalb der 1981 im DEFA-Dokumentarfilmstudio Berlin gegründeten Gruppe »DEFA Kinobox«[13] öffnete sich für Misselwitz bald ein erstes kreatives Podium. Hier konnte sie ab 1983 zunächst freiberuflich als Regisseurin arbeiten. Der bereits erwähnte Kurzfilm »Marx-Familie« wurde zum ersten Beleg ihrer Handschrift und, wie schon ausgeführt, war dies alles andere als nur eine Fingerübung für spätere Filme. Der Kurzfilm erweist sich innerhalb des Oeuvres von Helke Misselwitz mehrfach als wichtig: Nicht nur, weil dies ihr erster eigenständiger Kurzfilm im DEFA-Studio für Dokumentarfilme war. Vor allem deshalb, weil einzelne Gestaltungsmomente auch später wesentlich für die filmische Arbeit der Regisseurin blieben. Die zwischen 1983 und 1985 entstandenen, kurzen und mittellangen Arbeiten für die Gruppe »DEFA Kinobox« stellen mehr als nur Zwischenkapitel auf dem Weg zum Triumph von »Winter adé« (1988) dar. Sie zeugen von bereits völlig ausgebildeter künstlerischer Klarheit und Reife. Dabei zog sich die Regisseurin nie auf die erreichte Professionalität zurück, sondern erprobte stets neue, für den DEFA-Konsens ungewöhnliche Stilmittel.
Ihren wesentlichen Phasensprung im Umgang mit der Fotografie erlebte die Werkbiografie von Helke Misselwitz wohl nicht zufällig parallel zur Arbeit in der Galerie »Sophienstraße 8« in Berlin-Lichtenberg. Die damals freiberuflich arbeitende Regieassistentin Sie verbrachte hier als Aufsichtskraft viel Zeit mit den Bildern von einigen der wichtigsten DDR-Fotografinnen und Fotografen. Hier stellten in den 1980er Jahren u.a. Helfried Strauss, Bernd Heyden, Helga Paris oder Gundula Schulze aus. Letztere hatte Misselwitz in den Räumen der Galerie auch persönlich kennengelernt. Als Resultat dieser Begegnung war 1983 »Aktfotografie – z.B. Gundula Schulze« entstanden. Die statischen Bilder der porträtierten Künstlerin treten hier in Austausch mit den vitalen Bildern des Films, eine Annäherung findet statt. Beide unterlaufen den gängigen Idealen des »sozialistischen Menschen«, setzen stattdessen eine eigene »Poesie« frei. »Aktfotografie – z.B. Gundula Schulze« baut seine doppelbödige Spannung durch die Montage aus Gesprächen und Fotografien der porträtierten Fotografin mit unkommentierten Dokumentaraufnahmen aus dem weiblichen DDR-Alltag auf – womit das offizielle Frauenideal mit sanfter Ironie unterlaufen und vom Kopf auf die Füße gestellt wird. »Es wird ein Bild von der Schönheit der Frau in der Öffentlichkeit geschaffen, das nicht real ist. Die Frau, die abgebildet wird, hat mit dem Bild überhaupt nichts zu tun, weil ihr Alltag ganz anders aussieht.«, gibt im Film die junge Fotografin[14] zu Protokoll – während eine Gruppe von Verkäuferinnen in weißen Kitteln zu sehen ist, die gerade ihre Schicht in einer HO[15]-Kaufhalle antritt.
1984 stellte Misselwitz mit »35 Fotos« einen weiteren »Kinobox«-Beitrag fertig. Ursprünglich war geplant, den Kurzfilm zum 35. Jahrestag der DDR im Kino-Vorprogramm zu zeigen. Wie schon »Marx-Familie« erschien er jedoch nicht »repräsentativ« genug. Erst ein Jahr später kam er unter dem Titel »Bilder aus einem Familienalbum« innerhalb der »Kinobox 39/1985« zum Einsatz. Mit genau 35 einzelnen, chronologisch eingeblendeten Fotografien gelingt es Misselwitz in der nur sehr kurzen, sieben Minuten währenden Laufzeit, eine ganze DDR-Vita zu entfächern. »Das war ein Leben, so wie ich es wollte.«, spricht da die Tontechnikerin Karin R. aus dem Off, zurückblickend auf ein Familienfoto, das sie als junge Mutter mit Ehemann und zwei Kindern zeigt. Dann fügt sie relativierend hinzu: »Wie ich dachte: das ist es.« Kurz danach folgten die Scheidung und der Alltag als alleinerziehende Mutter. Der Film erzählt nüchtern, dabei aber stets leichthändig und nachdenklich von Lebensentwürfen und den damit verbundenen Enttäuschungen. Die von der Regisseurin porträtierte Frau war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 35 Jahre alt – damit ebenso alt wie die DDR, und wie Helke Misselwitz. »35 Fotos« stellt eine echte Ausgrabung dar. Zum einen war er in der Kinobox-Kompilation quasi »versteckt«, zum anderen konnte er auch aus urheberrechtlichen Gründen nicht aufgeführt werden.[16]
In 1985 entstanden zwei kurze dokumentarische Arbeiten zum Tango-Sujet. Es handelt sich um zwei eigenständige Arbeiten, die thematisch und stilistisch allerdings miteinander korrespondieren. Unterstützung für die Projekte fand Misselwitz u.a. bei dem berühmeten westdeutschen Schauspieler Bruno Ganz, der ihr Literatur zum Thema[17] zugänglich machte. Fachberater dieser Filme war Jorge Hönig, ein Argentinier, der in der DDR lebte und auch Ausstellungen über Tango organisierte und betreute. Zunächst begann die Arbeit an »Tango« als Beitrag zur einer DEFA-Kinobox (40/1985) und deshalb in der üblichen Länge von zirka sechs Minuten. Hier stehen historische Fotos und Tonaufnahmen neben auf einer Ost-Berliner Kleinbühne inszenierten Tanzszenen und »Tableau vivants«. Dieser Magazinbeitrag ist keine Kurzfassung vom etwas später fertiggestellten, wesentlich längeren »TangoTraum« – der mehr Zeit bietet für historische und ästhetische Hintergründe, den Zuschauern auch mehr Raum lässt für eigene Schwingungen. Die Regisseurin selbst spielt hier die Frau, die von ihrer Faszination für den Tanz aus Argentinien und Uruguay spricht. Beide Filme verblüffen durch ihre spielerische Montage, mit der Sphären aus Geschichte und Gegenwart, aus Politik und Privatheit sowie aus Fremdsein und Vertrauen auf sprichwörtlich tänzerische Weise miteinander verwoben werden. Ein Mythos aus der weiten Welt erfährt hier seine Implantierung in die ostdeutschen Kinosäle, damit in den nicht besonders tänzerischen DDR-Alltag. »Man muss lernen zu widerstehen, nicht zu gehen, nicht zu bleiben…«, spricht die lateinamerikanisch gefärbte, männliche Off-Stimme in »Tango«. Ein Motto, das damals auch als Lebensmaxime für viele DDR-Zuschauer hätte gelten können. Doch noch lag der gesellschaftliche Umbruch in gefühlt unendlicher Ferne.
Als nicht minder nachhaltig als die Filme selbst sollte sich die in jener Phase konsolidierende und immer intuitiver werdende Zusammenarbeit zwischen Helke Misselwitz (Regie und Buch), Gudrun Plenert-Steinbrück (Schnitt) und Thomas Plenert (Kamera)[18] herausstellen. Die Freundschaft des Trios hatte sich Anfang der 80er Jahre ergeben und vertiefte sich durch die intensiven und langjährigen Vorbereitungen (fast drei Jahre) des abendfüllenden Dokumentarfilms »Winter adé« (1988). Die Annäherung des Filmbilds an eine bestimmte DDR-typische Art von Alltagsfotografie, findet in diesem Dokumentarfilm ihre stärkste Ausformung. Thomas Plenerts Kameraarbeit mit ihren langen, beobachtenden Einstellungen nimmt trotz ihrer Unmittelbarkeit nie einen reportagenhaften Stil an. Fotografie wird Film und Film wird Fotografie.
Durch die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Thomas Plenert ergibt sich ein weiterer Zirkelschluss. Plenert war seit Ende der 70er Jahre ständiger Kameramann und kongenialer Arbeitspartner von Dokumentarfilmer Jürgen Böttcher. Böttcher war derjenige unter den DEFA-Regisseuren, der sich am vehementesten für eine Befreiung des Dokumentarfilms vom politisch-belehrenden Duktus eingesetzt hat. Bereits mit seinen frühen Arbeiten wie »Drei von vielen« (1961) oder »Barfuß und ohne Hut« (1964) schuf er Gruppenportraits, die den Heroismus des Sozialistischen Realismus sanft unterliefen und damit das Menschenbild vom Kopf auf die Füße stellten. Dies gelang ihm durch eine ausgesprochen poetische Perspektive, in deutlicher Verwandtschaft zu den zeitgleich entstandenen Filmen des »Cinéma vérité« und zu den Neuen Wellen in Osteuropa. Beide Filme (Kamera: Christian Lehmann) wurden damals verboten. Misselwitz und ihr Team knüpfen an diese poetisch intendierte Perspektive Böttchers unmittelbar an und entwickelt diese weiter.
Bis ins nächste Jahrtausend hinein sollte dieses kreative Trio Bestand haben – wobei die klassischen Grenzen zwischen den einzelnen Tätigkeiten bisweilen fließend sind.[19] Ihre reifste Ausformung fand diese Konstellation in »Winter adé« – bei dem die Schnittmeisterin Gudrun Plenert im Abspann auch als »Mitarbeiterin am Montageszenarium« benannt wird.
»Winter adé« kann in seiner Bedeutung für den DEFA-Film insgesamt und für den politischen Wandel Ostdeutschlands Ende 1989 gar nicht hoch genug eingestuft werden. Über dieses Werk müssen deshalb ein paar Worte mehr verloren werden. Von seiner äußeren Gestalt her vollzieht der Film eine Bahnreise quer durch die DDR, im letzten Jahr ihres Bestehens: Auf ihrer Fahrt von der Industrie- und Bergarbeiterstadt Zwickau in Sachsen, aus der Helke Misselwitz stammt, in den Norden, bis zur Insel Rügen an der Ostsee, trifft die Regisseurin Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Prägung. Einige der Begegnungen sind verabredet, andere ergeben sich aus improvisierten Situationen. Die Landschaften und Architekturen Ostdeutschlands, gefilmt in strengem Schwarzweiß, bilden den wechselnden Hintergrund. Die Frauen erzählen von ihrem Alltag, ihren Nöten und Hoffnungen: unter anderen zwei junge Punkerinnen, eine Arbeiterin aus einer Brikettfabrik, eine Berliner Ökonomin oder eine 85-jährige Dame, die gerade ihre diamantene Hochzeit feiert. Ihre unverstellten Aussagen und Beobachtungen fügen sich zu einem vielgestaltigen Kaleidoskop aus Erinnerungen, Wünschen und Frustrationen, die das Leben und die Stimmungen in der DDR ein Jahr vor deren Zusammenbruch auf plastische Weise beschreiben.
Am Ende führt der Weg ins Nichts. Schienenstränge, die uns fast zwei Stunden lang durch Landschaften und Städte geleitet, die uns vor allem mit Menschen unterschiedlichster Prägung zusammengeführt haben, reißen plötzlich ab. Die Reise führt uns nicht mehr weiter. Der eben noch neugierige und immer wieder bestürzend-beglückende Bilder entdeckende Blick endet am Pier, richtet sich auf das brodelnde Wasser »unseres« kleinen Meeres. Die Ostsee setzt den Schlusspunkt dieser Expedition vom Süden nach Norden des halben Landes namens DDR. Die warme Stimme von Janis Joplin erhebt sich wie zum Trost und haucht ihren Song »Summertime«. Text[20], Musik und kultureller Hintergrund dieses Liedes stehen in starkem Widerspruch zur visuellen Enge und Kälte des Gesehenen. Dies scheint zunächst in keiner Weise zusammenzupassen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn vielleicht nur wenige im Publikum verstehen konnten, was da gesungen wurde, so war doch die emotionale Botschaft unmissverständlich. Die Schlussszene nimmt trotz ihres frostigen Klimas den Titel des Films auf und verkündet das baldige Ende der allzu langen kalten Jahreszeit: »Winter adé«! Zeit für einen Wechsel!
Als der Film mit diesem Titel im Herbst 1988 auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche im über tausend Plätze fassenden Kino »Capitol« zur Premiere kam, wurde er von den meisten Anwesenden frenetisch gefeiert. Die wenigen, die ihn ablehnten, schwiegen und arbeiteten im Stillen gegen den Film und ihre Urheberin.[21] Doch weder seine Anhänger noch seine Feinde konnten ahnen, dass schon kurze Zeit später die Prophezeiung eines baldigen Wandels Wirklichkeit werden würde. Am selben Ort, in der »Heldenstadt Leipzig«[22], erfasste binnen Jahresfrist der allgemeine Unmut die Massen und wurde zur materiellen Gewalt. Hunderttausende Menschen gingen auf die Straße, um gegen die innenpolitische Erstarrung zu protestieren. Im Herbst 1989 versank dann die DDR in der Geschichte.
»Winter adé« hatte schon ein Jahr vor dem »Revolutionsherbst 1989« ein vernehmliches Zeichen für unumgängliche Veränderungen gesetzt. Dabei handelte es sich keineswegs um einen Undergroundfilm, der gegen den Willen des DEFA-Dokumentarfilmstudios entstanden war, sondern um eine mit Budget, Technik, Personal und Zeit gut ausgestattete, offizielle Produktion. Seine Existenz zeugt von der Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher kulturpolitischer Strömungen, die teilweise diametral, teilweise auch parallel oder sich überschneidend verliefen. Ein solches Werk kam natürlich nicht aus dem Nichts. Es gab zahlreiche Personen, die das Projekt unterstützt und seine langfristige Vorbereitung seit Mitte der 80er Jahre ermöglicht hatten. Auch für die Regisseurin selbst markiert dieser Film den Höhepunkt einer Entwicklung, deren Beginn noch viel weiter zurückliegt. Helke Misselwitz war zum Zeitpunkt der Uraufführung bereits 41 Jahre alt. Sie wurde mit dem Film schlagartig berühmt – dies in Ost wie West. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sie sich beim Fall der Mauer gerade mit dem Film zu einer Vortragsreise in den USA befand.[23] Wie für Millionen andere Menschen brachte der Herbst 1989 auch für sie tiefgreifende Veränderungen mit sich. Dass das ersehnte Ende des spätstalinistischen SED-Regimes wenig später auch die DDR hinwegfegen und zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten führen sollte, konnte 1989 ebenso wenig erahnt werden wie ein Jahr vorher die »Friedliche Revolution« selbst.
Misselwitz schloss zunächst den 1988 begonnenen Dokumentarfilm »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann« ab. Hier wurde eine private Kohlenhandlung im Prenzlauer Berg sowie deren Besitzerin und ihre Angestellten bis an den Rand der »Zeitenwende« von 1989 begleitet – ein einzigartiges Zeugnis sozialer und urbaner Metamorphosen; nicht zuletzt angesichts der inzwischen vollständig vollzogenen Umwandlung des damaligen Drehortes zum Touristen- und Hipster-Hotspot. Heute dort noch »indigene Einwohner« ausfindig machen zu wollen, käme einer Detektivarbeit gleich. Die Metamorphose vom Proletenviertel zur Lifestyle-Domäne lässt sich anhand des Films regelrecht riechen. Wo einst die resolute Kohlenhändlerin Renate Uhle täglich ihre hart am Rand des alkoholischen Absturzes befindlichen Mitarbeiter konditionieren musste, hat sich längst der gehobene Mittelstand breit gemacht. Damals befand sich der Gewerbehof buchstäblich am Rande der Welt: wenige hundert Meter hinter dem Drehort verlief die Berliner Mauer, mit der Europa, Deutschland und Berlin für lange Jahre in zwei Blöcke geteilt worden war. Bei Frau Uhle und »ihren Männern« schien allerdings die Zeit schon länger stehengeblieben zu sein. Die Reparatur eines vorsintflutlich wirkenden Transportkarrens zum Beispiel nimmt epische Ausmaße an. Frau Uhle kommentiert sarkastisch: »Man denkt immer, heute ist Fortschritt. Denkste – Steinzeit.« Helke Misselwitz bezeichnete »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann« nicht zufällig als ihren »Lieblings-Dokumentarfilm«[24]. Mit ihm krönte sie die von Jürgen Böttcher in den frühen 1960er Jahren begründete, lange DEFA-Tradition von realistisch-poetischen Alltagsporträts, die das offiziell geforderte Abbild der »herrschenden Arbeiterklasse« beim Wort nahmen und den »sozialistischen Helden« ihre Würde als real existierende Menschen zurückgaben.
Mit ihrer nachfolgenden Arbeit »Sperrmüll« (1990) wechselte Misselwitz das Milieu. Doch beide Arbeiten ergänzen sich hervorragend. Das Gruppenporträt der gleichnamigen Jungs-Band und ihrer Familien wirft einen personalisierten Blick in die unmittelbare Umbruchzeit. Indem die Ereignisse, Wirkungen und Folgen des Herbstes 1989 scheinbar wie nebenbei beobachtet werden, entstand einer der ersten filmischen Dokumente über die im Grunde bis heute weiter anhaltende, gesellschaftliche Transition bzw. Transformation im Osten Deutschlands.[25] Was als Film über vier junge Ost-Berliner begann, die ihren Frust zu auf weggeworfenen Gegenständen erzeugter Musik verarbeiten, wurde von den historischen Ereignissen des Sommers und Herbstes 1989 überrollt. Am Ende entstand ein Porträt von Enrico – eines der Nachwuchsmusiker – und seiner Mutter, die im Sommer einen West-Berliner heiraten und zu ihm ziehen darf. Doch Sohn Enrico ist wild entschlossen, in Berlin-Ost zu bleiben und die gerade beginnenden Veränderungen gestaltend mitzuerleben. Es folgen der Gorbatschow-Besuch am 7. Oktober, die Gewaltakte und Friedensgebete, schließlich die erste und letzte freie Wahl im März 1990.
»Sperrmüll« wurde zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung wenig beachtet. Was damals auf den Straßen und in den Köpfen passierte, war aufregender als jedes Kinoabenteuer. Nun erreicht uns der Film als ein überraschendes »Passagen-Werk« von einem Zustand in einen anderen. Es gibt im Film zwei großartige Handkameraaufnahmen von Thomas Plenert, die diese Ambivalenzen markieren. Zum einen folgen wir Enrico bei einem langen Gang durch die Abfertigungsanlagen im Grenzbahnhof Friedrichstraße in Richtung Westen. Ganz zuletzt sind wir Zeuge seiner Stimmabgabe in einem Ost-Berliner Wahllokal am 18. März 1990. Der Ausgang dieser Wahl ist bekannt. Die Utopien waren nun weitgehend ausgeträumt. Nach diesen zwei im Hybridzustand des »Nicht-Mehr und Noch-Nicht« entstandenen bzw. vollendeten dokumentarischen Arbeiten wandte sich die Regisseurin ihren langgehegten Spielfilmvorhaben zu.
Nach dem Zusammenbruch des DDR-Sozialismus setzte Helke Misselwitz alles daran, ihre lang gehegte Vision eigener, abendfüllender Spielfilme endlich umsetzen zu können. Die Bedingungen dafür waren gut. Frei von Korrumpierungen mit dem alten System, durch den Erfolg von »Winter adé« mit hervorragender Reputation ausgestattet, konnte sie sich aus einer vergleichsweise komfortablen Position heraus auf ihre Pläne konzentrieren. Damals veränderten sich die Realitäten rasend schnell. Über Jahrzehnte angestaute, fiktionale Stoffe konnten inhaltlich in großen Teilen plötzlich obsolet werden. Um dynamischer auf diese Veränderungen zu reagieren, gründete Misselwitz im Frühling 1990 gemeinsam mit Thomas Wilkening eine der ersten privatwirtschaftlichen Produktionsfirmen auf dem Territorium der sich bereits auflösenden DDR[26]. Auf die neue Sachlage reagierte die Filmemacherin sensibel. Sie beging nicht wie einige ihrer männlichen Kollegen[27] den Fehler, den Wegfall der Zensur für die Hinwendung auf ostdeutsche Themen zu nutzen, die vorher aus staatspolitischen Gründen nicht zu realisieren waren. Misselwitz‘s Spielfilmvorhaben standen wie die Projekte ihrer einstigen DEFA-Kollegen auf dem unsicheren Grund einer sich ständig veränderten Situation. Jedoch ging die Regisseurin offensiver mit diesen Unsicherheiten um.
Helke Misselwitz erster abendfüllende Spielfilm »Herzsprung« (1992) ist eine leidenschaftliche Geschichte von Orientierungs- und Glückssuchen in einer aus den Fugen geratenen Welt. Die lang ersehnte Freiheit offenbart sich nämlich für Viele als schwer aushaltbar. Ohne jede Verklärung des trügerischen Behütetseins im Realsozialismus, bar auch aller Beschönigung der Gegenwart, formuliert der Film konkrete, d.h. individuelle Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen nach 1990. Obwohl es sich um einen Spielfilm handelt, ist er doch auch ein seltenes Dokument des Zeitgeschehens, wie sie sonst in solch zugespitzter Form nur in wenigen Fällen vorliegen. Auf interessante, weil fast unfreiwillige Weise kehrt sich damit das erzählende Moment aus den früheren Arbeiten quasi um. Waren die Dokumentarfilme durch ihre hochartifizielle, zwischen Inszenierung und Abbildung changierende Gestalt durchaus auch fiktionalisierend, erweist sich der Spielfilm nun über große Strecken auch als unmittelbar-protokollierend, damit als dokumentarisch.
»Herzsprung« ist von besonderem Interesse. Die Produktion des Films wurde teilweise mit Geldern ermöglicht, die noch aus der gerade in »Abwicklung« befindlichen DEFA-Studios stammten.[28] Die Handlung führt in eine fiktive Ortschaft namens »Herzsprung«, irgendwo nördlich von Berlin.[29] Hier, wo die großen historischen Verwerfungen nur als Nachbeben ankommen, scheint sich auch weiterhin nicht wirklich etwas zu bewegen. Doch der Eindruck trügt. Das Dorf mit dem schönen Namen wird zum Mikrokosmos einer eben noch »Geschlossenen Gesellschaft«[30] , in der sich die irreversiblen Veränderungen langsam ankündigen und sich schließlich gewaltsam entladen. Vage Sehnsüchte schlagen auf verhängnisvolle Weise in neue Frustrationen um. Zwei junge Frauen spüren die Frühlingsluft, erahnen, dass es hinter dem Acker auch noch eine andere, weitere Welt geben muss. Gleichzeitig empfindet sich die männliche Dorfjugend bereits als abgehängt. Die jungen Männer nehmen den Wandel nicht als Chance wahr, sondern primär als Bedrohung ihrer kleinen, scheinbar wohl eingerichteten Welt. Als ein junger, schöner Fremder ins Anwesen kommt, konzentrieren sich auf ihn gleichsam Hoffnungen wie Aggressionen. Die Situation eskaliert.
»Herzsprung« hatte seine Premiere während der Internationalen Filmtage in Hof am 30. Oktober 1992, also ziemlich fast genau drei Jahre nach dem Fall der Mauer. Der Spielfilm wurde von zahlreichen Ex-DDR-Einwohnern, die »Winter adé« noch in bester Erinnerung hatten, mit Neugierde aufgenommen. Er erhielt Einladungen zu zahlreichen Festivals im In- und Ausland, wurde in San Sebastian mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet und von der Filmbewertungsstelle als »wertvoll« eingestuft. Die reguläre Auswertung im Kino verlief jedoch eher verhalten.[31] Zu schnell hatten sich die Sehgewohnheiten des potentiellen Publikums verändert, dies in Wechselbeziehung mit der zunehmenden Marktdominanz des Unterhaltungskinos. Im ebenfalls bundesdeutsch dominierten Feuilleton gab es einige begeisterte Stimmen (Horst-Peter Koll etwa attestierte im »film-dienst«: »Der hervorragend fotografierte und gespielte Erstlingsfilm vermittelt eindrucksvoll das klischeefreie Bild einer von Arbeitslosigkeit, Ausländerhass und Perspektivlosigkeit geprägten Region.«[32] ). Andere Stimmen zeugen eher von Unverständnis. So bemängelte Christoph Boy in der TAZ, dass »… die Erstarrung der Menschen (…) in den verklärenden Bildern der vertrauten Welt verschwimmt.«[33]
In jüngerer Zeit wird »Herzsprung« wieder differenzierter wahrgenommen und rückblickend in sein Recht als eines »(…) gültigen Zeitbildes vom durchgreifenden gesellschaftlichen Umbruch in Ostdeutschland (…)« gesetzt.[34] 2009 wurde der Film in der Reihe »Wende Flicks« der DEFA Film Library als neue 35mm-Kopie mit englischen Untertiteln herausgebracht und später als DVD veröffentlicht.[35] Im Oktober 2021 publizierte das Internationale Frauenfilmfestival Dortmund/Köln das Buch »Was wir filmten – Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990«, der Umschlag zeigt ein Szenenfoto aus »Herzsprung«.[36] Die Wiederbegegnung mit dem Film lohnt sich, er zeugt heute von einer geradezu prophetischen Sensibilität. Noch vor den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda gedreht, kündigt sich in ihm bereits die brisante Gemengelage an, die sich dann mit Brandstiftungen, Hetzjagden und Mordversuchen ihre Bahn brach, dies begleitet vom Applaus von Anwohnern und von merkwürdiger polizeilicher Zurückhaltung. Leider zeigt sich, dass die im Film seismografisch aufgenommenen Auswuchtungen eines kaum reflektierten Transitionsprozesses noch immer aktuell sind bzw. ihre Nachbeben aussenden.
Für Misselwitz gestaltete sich die Arbeit an weiteren Kinospielfilmen nach »Herzsprung« schwieriger. Erst vier Jahre später folgte mit »Engelchen« (1996) das auf einer Polizeimeldung basierende Bildnis einer immer mehr ins Abseits trudelnden jungen Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ein ganz normales Leben mit Mann und Kind zu führen. Als die Wirklichkeit nicht so will wie sie, beginnt sie, in die Wirklichkeit einzugreifen. Auch dieses ebenso empathisch-genaue wie sozialhistorisch wichtige Werk erntete wenig Verständnis durch Multiplikatoren. Der Kinostart erfolgte verschleppt und wurde lieblos beworben, im Feuilleton waltete Ignoranz oder gar Häme. Von weiblicher Solidarität keine Spur. Das TIP-Magazin kanzelte neben anderen Filmen von Regisseurinnen auch Helke Misselwitz‘ »Engelchen« schon in der Überschrift eines Beitrags als »Rückkehr der Heulsusen« ab.[37] Im exklusiven Zirkel des neudeutschen Förderfilms schien vorerst für die Schöpferin von »Winter Adé« und anderer Schlüsselwerke kein Platz mehr zu sein. Dies bot der Regisseurin die Chance für einen neuerlichen Perspektivwechsel.
Auch wenn Misselwitz weiterhin filmisch arbeitete, folgte sie einem Ruf an die im Umbruch befindliche Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Was ihr 1990 im Hinblick auf die eigenen, nun endlich realisierbaren Spielfilmprojekte als unpassend erschien[38] , stellte sich sieben Jahre später als Herausforderung dar. Von 1997 bis 2014 wirkte sie als Professorin für Spielfilmregie an der Filmhochschule bzw. Filmuniversität in Potsdam-Babelsberg. Auch wenn ihr dadurch kaum Raum und Zeit für eigene filmische Projekte blieb, übte sie damit großen Einfluss auf die deutsche Filmlandschaft aus. Prägte und förderte sie doch mit dieser Arbeit eine ganze Generation des gesamtdeutschen Filmnachwuchses. Der offizielle Ruhestand als Lehrende bedeutete für die Regisseurin kein Rückzug, sondern, im Gegenteil, die Rückkehr zu künstlerischer Kreativität. Endlich konnte sie sich wieder auf ihre eigenen Filmvorhaben konzentrieren und alte Vorlieben schöpferisch aufgreifen. Ihre künstlerische Affinität zur Fotografie führte 2019 zum dokumentarischen Essay »Helga Paris, Fotografin«[39] , und ihre Liebe zur Poesie und Malerei zu »Die Frau des Dichters« (2021)[40] . Von Helke Misselwitz, die sich auch seit Jahren in der Akademie der Künste[41] kulturpolitisch engagiert, ist noch viel zu erwarten!
[1] The DEFA Film Library used the title Everyday Poetry: The Early Films of Heke Misselwitz for the 2021 retrospective presented at Anthology Film Archives in New York and the Argentinian Mar del Plata Internationla Film Festival in fall 2021.
[2] Helke Misselwitz und Kameramann Thomas Plenert hatten sich Anfang der 80er Jahre kennengelernt und zum ersten Mal in »Winter adé« zusammengearbeitet. Seit diesem Film ist Plenert an fast allen Filmprojekten der Regisseuring beteiligt
[3] Breton, André. Die Manifeste des Surrealismus. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg, 1986. S. 21
[4] Handke, Peter. Gestern unterwegs – Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Salzburg: Verlag Jung und Jung, 2005. S. 27
[5] Helke Misselwitz produzierte im Auftrag des DEFA-Studios insgesamt zehn Filme: acht Dokumentarfilme für das DEFA-Studio für Dokumentarfilme und Herzsprung, das Spielfilmdebüt der Regisseurin, für das DEFA-Studio für Spielfilme. Der Kurzfilm »STILLEBEN. Eine Reise zu den Dingen« war ein Auftragswerk des DDR- Fernsehens und wurde im DEFA-Studio für Animationsfilme produziert. Diese DVD-Edition enthält die neun Filme, die von den DEFA-Studios produziert und (co)finanziert wurden.
[6] Die neun DEFA-Titel (siehe Footnote #5) wearden im Text in fett hervorgehoben, wenn sie das erste Mal erscheinen.
[7] Der Film wurde anlässlich des 100. Todestages von Karl Marx in Auftrag gegeben und verfehlte die offiziellen repräsentativen Erwartungen. Er sollte zusammen mit drei anderen Filmen gezeigt werden. Alle vier Filme wurden nicht von der Hauptverwaltung Film abgenommen, aber später in einzelne »Kinoboxen« übernommen.
[8] Mit dieser Formel wurden über Jahrzehnte hinweg alle Eleven und Praktiker traktiert, die sich im Machtbereich des Kremls mit diesem Medium Film beschäftigen wollten. In der DDR erschien sogar ein 300 Seiten umfassendes Buch unter diesem Titel. Hier versammelten die Herausgeber sämtliche, noch so rudimentäre Äußerungen Lenins zum Filmwesen. Die berühmte Formel selbst konnte dabei jedoch nur vage und aus zweiter Hand nachgewiesen werden. Vgl.: Günther Dahlke / Lilli Kaufmann (Hg.), … wichtigste aller Künste. Lenin über den Film. Dokumente und Materialien, Berlin (DDR) 1970
[9] Der HFF-Dokumentarfilm »Hinter den Fenstern« von Petra Tschörtner (1958-2012) kann als Vorläufer zu »Winter adé« gesehen werden.
[10] Diese Umschreibung wurde 1967 von Rudi Dutschke formuliert. Er meinte damit die eine langfristig wirksame Strategie, um gesellschaftlich wirksam zu werden; dies allerdings bezogen auf den westlichen Teil Deutschlands.
[11] MITROPA = Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen Aktiengesellschaft (Gastronomischer Service in Zügen und auf Bahnhöfen der DDR-Reichsbahn).
[12] Helke Misselwitz arbeitete u.a. im Selbstbedienungsrestaurant der MITROPA auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Genau dort drehte ihr ehemaliger Kommilitone Thomas Heise 1990 seinen Dokumentarfilm »Imbiss Spezial«.
[13] Das monatliche Magazin »DEFA Kinobox« wurde 1981 als Ersatz für die von 1946 bis 1980 existierende DEFA-Wochenschau »Der Augenzeuge« konzipiert. Die jeweils zwischen 15 und 20 Minuten langen Kurzfilm-Kompilationen mit Beiträgen aus Kultur, Alltag und Sport liefen im Kino vor dem Hauptfilm. Leiter der Gruppe »Kinobox« war Bernd Burkhardt, der sich auch für andere Quereinsteiger einsetzte.
[14] Die im Film porträtierte Künstlerin Gundula Schulze (später: Gundula Schulze Eldowy) wurde später eine der maßgeblichen Fotografinnen der DDR. 1985 lernte sie den US-amerikanischen Fotografen und Filmemacher Robert Frank (1924-2019) kennen, der sie förderte und 1990 nach New York einlud.
[15] HO = »Handelsorganisation«, staatliches Einzelhandelsunternehmen in der DDR
[16] Die ursprünglich von den Beatles stammende Musik wurde während der Digitalisierung und Restaurierung 2021 in Abstimmung mit der Regisseurin von Akkordeon-Passagen von Kathrin Pfeiffer ausgetauscht, so dass der Film in der 2021 Retrospektive EVERYDAY POETRY: The Films of Helke Misselwitz im Anthology Film Archives in New York gezeigt werden konnte und auch künftig für Vorführungen zur Verfügung steht.
[17] Helke Misselwitz hatte von Bruno Ganz den Katalog der Ausstellung »Melancholie der Vorstadt. Tango«, die 1982 am Künstlerhaus Bethanien in West-Berlin stattfand, erhalten. Die Texte, u.a. auch einer von Jorge Hönig, und Fotos des Kataloges dienten Misselwitz als Arbeitsgrundlage für ihren Film »Tango«.
[18] Thomas Plenert hatte ab 1977, seit dem Dokumentarfilm »Im Lohmgrund«, kontinuierlich mit Jürgen Böttcher dem Nestor des »anderen« DEFA-Dokumentarfilms, zusammengearbeitet und brachte seine dabei gesammelten Erfahrungen in das Trio ein.
[19] Gudrun Plenert ist die Ehefrau von Thomas Plenert, führt in den Credits mitunter ihren Geburtsnamen an. Gudrun Steinbrück wird im Abspann von »Winter adé« auch als Co-Autorin genannt.
[20] »Summertime, child / the living’s easy / Fishs are jumping out / (…) / One of these mornings / You’re gonna rise, up singing / You’re gonna spread your wings, child / And take to the sky / But until that morning / nothing’s going to harm / Don’t you cry.« (Es ist Sommer, Kind / dein Leben ist leicht / die Fische springen raus / (…) / An einem dieser Morgen, Kind / wirst du singend aufsteigen / du wirst deine Flügel ausbreiten / und zum Himmel hinauffliegen / Aber bis zu diesem Morgen / gibt es nichts, was dir schaden kann / Weine nicht.) Der Song stammt ursprünglich aus George Gershwins Oper »Porgy & Bess« (1935), der Text für dieses Wiegenlied wurde von DuBose Heyward geschrieben.
[21] »Winter Adé« gewann auf dem Festival die »Silberne Taube«. Das DDR-Fernsehen verweigerte zunächst eine Ausstrahlung. Im Februar 1989 startete der Film dann offiziell in den DDR-Kinos.
[22] In seinem Redebeitrag am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin forderte der Schriftsteller Christoph Hein, Leipzig künftig mit dem Zusatznamen »Heldenstadt« zu ehren.
[23] »Winter adé« wurde in den USA von der Firma »Zeitgeist-Film« auf VHS und 16mm verliehen. Die USA-Reise war quasi eine Promo-Tour für den Film, organisiert von verschiedenen Partnern, u.a. Prof. Barton Byg, dem Gründungsdirekter der DEFA Film Library at UMass Amherst.
[24] Am 05.07.2018 in einem Brief an den Autor.
[25] Die Begriffe der »Transition« oder »Transformation« waren für die Beschreibung der Umbrüche in den einstigen Ostblock-Staaten bereits seit den frühen 1990er Jahren üblich. Für das Gebiet der einstigen DDR wurden die Bezeichnungen lange vermieden – da ja durch den Beitritt zur BRD bereits am 3.10.1990 die staatliche Einheit hergestellt werden konnte und damit alle Probleme gelöst zu sein schienen.
[26] Thomas Wilkening (1956-2005), Sohn des langjährigen DEFA-Hauptdirektors Albert Wilkening (1909-1990), war vorher, am 1. Januar 1990, zum Leiter der neu gegründeten Künstlerischen Arbeitsgruppe »DaDaeR« im DEFA-Studio für Spielfilme ernannt worden..
[27] Frank Beyer (»Der Verdacht«, 1991), Roland Gräf (»Der Tangospieler«, 1990) oder Heiner Carow (»Die Verfehlung«, 1991) drehten jeweils Filme mit expliziten DDR-Themen.
[28] Der Film entstand als Co-Produktion zwischen dem DEFA-Studio Babelsberg GmbH, der Thomas Wilkening Filmgesellschaft mbH (Potsdam) und dem ZDF. Premiere war am 19.11.1992 in Berlin. Das Drehbuch war noch von der künstlerischen Arbeitsgruppe (KAG) »DaDaeR« bei der DEFA finanziert worden.
[29] Einen Ort namens »Herzsprung« gibt es tatsächlich. Er liegt im nördlichen Brandenburg, zirka 30 Kilometer von Neuruppin entfernt. Der gleichnamige Film spielt jedoch weder dort, noch wurde er hier gedreht. Lediglich der metaphorisch klingende Ortsnamen wurde für den Film übernommen.
[30] Frank Beyers Fernseh-Spielfilm »Geschlossene Gesellschaft« entwarf 1978 ein eindringliches Gleichnis auf die Stagnation in der DDR. Mit dem Titel assoziiert sich dialektisch gedacht allerdings auch Karl Poppers Standardwerk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (Tübingen 1957).
[31] »Herzsprung« startete am 19.11.1992 im »Filmverlag der Autoren«.
[32] Kroll, Horst-Peter. »Herzsprung.«, film-dienst 12/1994 bzw. www.filmdienst.de/film/details/48968/herzsprung#kritik
[33] Boy, Christopher. »Ich hab die Nacht geträumet – ‚Herzsprung‘ von Helke Misselwitz.« die tageszeitung, 19.11.1992
[34] Schäfer. Horst; Schobert, Walter (Hg.). Fischer Film Almanach 1993. Filme, Festivals, Tendenzen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag, 1993. S. 138
[35] Dies war die letzte analoge Kopie, die im DEFA-Kopierwerk hergestellt wurde. Der Versand der Kopie war die letzte Amtshandlung der Beschäftigten, die wenig später alle entlassen wurden. Der Versand von »Herzsprung« von Deutschland in die USA wurde parallel zur Abschiedsfeier des Betriebs organisiert.
[36] Schiel, Betty; Zoller, Maxa (Hg.). Was wir filmten – Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990. Berlin: Verlag Bertz + Fischer 2021. Das Buch enthält auch einen ausführlichen Text zu den beiden Spielfilmen »Herzsprung« und »Engelchen« von Therese Koppe.
[37] Nicodemus, Katja. Die Rückkehr der Heulsusen. TIP-Magazin 21/97.
[38] Der damalige HFF-Rektor Lothar Bisky hatte sich bemüht, Helke Misselwitz als seine Nachfolgerin zu etablieren.
[39] Als mehrkanalige Video-Installation innerhalb der Ausstellung »Helga Paris, Fotografin« (Akademie der Künste, Pariser Platz. November 2019 bis Märt 2020) konzipiert, funktioniert die Arbeit in linearer Form auch als eigenständiger Film.
[40] Der Dokumentarfilm »Die Frau des Dichters« porträtiert die türkische Malerin Güler Yücel (1935-2020), die mit dem Lyriker Can Yücel (1926-1999) verheiratet war. Siehe auch: https://mubi.com/de/films/the-poet-s-wife
[41] Seit 2018 fungiert sie als Stellvertretende Direktorin der Sektion Film- und Medienkunst.
Helke Misselwitz im Gespräch zu ihren Filmen
Helke Misselwitz auf DVD und online
Winter adé und andere Klassiker von Helke Misselwitz
Die Werkausgabe zum 75. Geburtstag. Ihre sieben wichtigsten Film 1983-1989. Poesie des DDR Alltags und zugleich Vorboten der Wende!
DVD und in Kürze online
[DVD, 221 Min., Bestnr. 8038]
Pressestimme zu: Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann
»… Die DDR-Dokumentaristin Helke Misselwitz hat einen wunderbaren Dokumentarfilm gedreht über Männer ist Ostberlin, die mit ihrem Sechs-PS-Kohlekarren über den Prenzlauer Berg schippern, sowie über eine resolute Frau, die Chefin der Kohle- und Holzhandlung, eine mit Berliner Schnauze, die schneller redet als sie denkt und alles im Griff hat.
Schwarzweiss ist dieser Film, wie könnte es anders sein bei diesem Sujet: die Bilder leben von scharfen Kontrasten zwischen hell und dunkel, die Kamera von Thomas Plenert (dem wahrscheinlich besten Kameramann der DEFA) ist beweglich, nah dran und doch gleichzeitig durch ihre Bildkultur distanziert genug, um uns die Intimitäten zu ersparen, mit denen Fernsehen Menschen so oft auch den Leib rückt. Zwar: Wir sehen die Männer auch privat, im Kreis der Familie, wenn sie sich den Kohlenstaub abgewischt haben, aber sie sehen jetzt aus wie auf Fotografien wie August Sander.
Manchmal fragt die Regisseurin etwas Privates: Zeig mal deine Hände. Kann man damit streicheln, zärtlich sein? Der Mann lacht, antwortet mit einer Anzüglichkeit, nicht böse, eher freundlich, man hätte auch eine rohere Antwort erwarten können. Es ist nicht gerade die feinste Gesellschaft in diesem Milieu, wo die Arbeit hart ist, der Dreck erheblich, und der Alkohol der Kleinkriminalität benachbart. „Man lebt sich so durch“, antwortet einer. Das seien Leute, die aus ihrem Leben nicht viel gemacht haben, urteilt die schnelle Chefin über ihre Arbeiter, sie meint es nicht einmal überheblich, es ist ihre Einsicht. Helke Misselwitz enthält sich jeden Moralisierens, sie bleibt lakonisch bei der Sache, die Menschen und ihre Arbeit beschreibend, ohne romantische Anbiederung an die Proleten, ohne Beschönigung ihrer Lebensweise. Und ganz offenbar genießt sie ihr Vertrauern, man wendet sich der Kamera zu, aber wirft sie ihr auch an den Hals …«
aus: Fritz Wolf, Man lebt sich so durch, EPD März 1990
Helke Misselwitz
Biographie bis 1990
* 18. Juli 1947 in Planitz
Helke Misselwitz gehört zu den wichtigsten Filmemachern der letzten DEFA-Generation. Bereits während der Studienzeit fallen ihre filmischen Übungen auf, aber erst 1988 kann sie mit der Dokumentation WINTER ADÉ (1988) nationale Anerkennung erzielen. Die Dokumentation ist eine der wichtigsten über Frauen in der DDR, Sehnsüchte und Befindlichkeiten kommen ungefiltert zum Ausdruck.
Helke Misselwitz wird am 18. Juli 1947 in Planitz, bei Zwickau geboren. Nach ihrer Schulausbildung lernt sie den Beruf einer Möbeltischlerin und absolviert dazu ihr Abitur. Nach dem Abschluss der Hochschulreife lässt sie sich an der Medizinischen Akademie Erfurt von 1966 bis 1969 als Physiotherapeutin ausbilden. Danach geht sie nach Berlin und ist als freie Moderatorin sowie Regieassistentin beim Fernsehen der DDR beschäftigt. 1973 wird sie fest angestellt. Zwischen 1973 und 1978 entstehen erste eigene Sendungen. Vom Sender wird sie an die Hochschule für Film und Fernsehen nach Potsdam-Babelsberg delegiert, studiert dort von 1978 bis 1982 im Fachbereich Regie.
Bereits mit ihren Studentenarbeiten erregt Helke Misselwitz Aufmerksamkeit. In VERSTECKEN (1979) und EIN LEBEN (1980) [1] beschäftigt sie sich mit der nationalsozialistischen Zeit, schildert kurz und präzise Situationen um Menschlichkeit und Brutalität. Die Wahl ihres Sujets ist für die Konventionen der Hochschule ungewöhnlich, auch stilistisch fällt der letzte Film durch die Vermischung von dokumentarischen und fiktionalen Momenten auf, erzählt er doch die Geschichte einer deutschen Frau, die ihren Jungen vor der Hitlerjugend bewahrt und einer jüdischen Familie hilft. Er irritiert, weil er in keine der vorgegebenen Schubladen von Opfer und Täter passt. EIN LEBEN (1980) zeigt nur das, was der Film im Titel vorgibt zu zeigen. In HAUS. FRAUEN (1981) porträtiert sie die Bewohner eines heruntergekommenen Hauses. Ihre Diplomarbeit wird DIE FIDELE BÄCKERIN (1982) und schildert den Werdegang einer opportunistischen Kleinbürgerin während des Dritten Reiches und nach dessen Zusammenbruch.
Zum Fernsehen kehrt Helke Misselwitz nach Ende ihres Studiums nicht zurück, ein Angebot schlägt sie aus. Sie arbeitet als freie Autorin und Regisseurin, muss sich ihren Lebensunterhalt aber auch als Kellnerin und Abwäscherin verdienen. Im DEFA-Studio für Dokumentarfilme arbeitet die junge Regisseurin beim Magazin KINOBOX mit. Dabei handelt es sich um ein Magazin, welches als Vorprogramm, analog der früheren DEFA-Wochenschau »Der Augenzeuge«, im Kino läuft.
Zudem entstehen Kurzfilme wie AKTFOTOGRAFIE – Z.B. GUNDULA SCHULZE (1983). Hier porträtiert sie die Künstlerin und Fotografin Gundula Schulze Eldowy und kontrastiert deren Bilder mit Alltagsszenen ›normaler‹ Frauen. Kunst und Kultur sind auch Thema ihrer nächsten Filme: in STILLEBEN – EINE REISE ZU DEN DINGEN (1983) ist es die Malerei, in TANGO-TRAUM (1985) die Faszination des Tanzes. In beiden Filmen verschwimmen die Grenzen zwischen Realistischem und Phantastischem.
Von 1985 bis 1988 wird Helke Misselwitz Meisterschülerin an der Akademie der Künste der DDR beim Regisseur Heiner Carow. Hier entwickelt sie das Filmprojekt WINTER ADÉ (1988), in dem sie exemplarisch die Lebensbedingungen von Frauen in der DDR schildern will. Eine 42jährige Werbeökonomin aus Berlin, eine 37jährige Arbeiterin in einer Brikettfabrik, zwei 16jährige Punkerinnen, eine 55jährige Erzieherin und eine Großmutter erzählen vor der Kamera ihre Geschichten. Die Interviews mit den Frauen verbindet die Regisseurin durch eine Eisenbahnfahrt durch das Land. Ausgangspunkt ist ihre Geburtsstadt Zwickau; die Reise endet im Norden am Meer. WINTER ADÉ (1988) ist einer der wichtigsten Filme über Frauen in der DDR, Sehnsüchte und Befindlichkeiten kommen ungefiltert zum Ausdruck. Der Film stößt bei den offiziell Verantwortlichen auf Ablehnung, zu offen werden politische Verhaltensweisen kritisiert und die soziale Situation der Frauen – trotz 40jähriger gesetzlich verankerter Frauengleichstellung – verdeutlicht. Trotz Widerstand läuft der Film im Wettbewerb der Internationalen Dokfilmwoche in Leipzig und wird mit der Silbernen Taube ausgezeichnet. Zudem feiert er in den Kinos der DDR einen beachtlichen Erfolg.
Der Erfolg der Regisseurin führt 1988 zu einer festen Anstellung im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Ihre nächste Dokumentation WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN (1989) [2] gilt ebenfalls als erfrischend und neu, bietet wieder eine einfühlsame Annäherung an ganz private Innenansichten. Hier setzt die Regisseurin dem Berufsstand der Kohlemänner ein Denkmal. Den Familienbetrieb im Prenzlauer Berg, 1922 gegründet, führt eine Frau. Sieben Männer schleppen die Kohlen. Helke Misselwitz begleitet sie bei der täglichen Knochenarbeit, lässt sie über ihr Leben und Themen wie Republikflucht, Gefängnis, Alkoholismus berichten. Kameramann Thomas Plenert vermittelt die körperlichen Schwierigkeiten dieses Jobs in harten Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Daraus entsteht ein sensibles, unsentimentales und ideologiefreies Arbeiterporträt über Menschen, die bis dahin noch nicht in den Fokus von DEFA-Kameras gerückt sind.
[1] Erschienen auf »BABELSBERGER FREIHEITEN Filme der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf 1957 – 1990«, 2 DVD, 392 Min., s/w + Farbe, Booklet
[2] Erschienen auf »SELBSTBESTIMMT. Perspektiven von Filmemacherinnen.« 10 Filme aus der BRD und DDR, 1966 – 1998. Die DVD zur Berlinale Retrospektive 2019. 2 DVD, 407 Min., Farbe + s/w, Booklet
Impressum
Gestaltung: Christin Albert
absolut Medien, Am Hasenbergl 12, 83413 Fridolfing
Tel.: 030 285 39 87 0
Fax: 030 285 39 87 26